Selma Kay Matter benutzt das Gendersternchen, entsprechend werden sie in diesem Text verwendet.
„Und,
hast du schon Brüste?“, fragte mich meine Tante kurz nach meinem 13. Geburtstag
ohne jeglichen Kontext. Wir standen gerade im Stau, sie saß am Steuer, ich auf
der Rückbank, mit uns im Auto waren ihr Ehemann und eine Freundin von ihr. Am
liebsten wäre ich sofort im cremeweißen Sitzpolster verschwunden. Ich war
wütend und beschämt, denn ich war die Einzige in der Klasse, die noch weder
Brüste noch ihre Tage hatte. Trotzdem hatte ich irgendwann begonnen, wie alle
anderen einen Push-up-BH zu tragen, der sich nur ganz langsam füllte. Ich
wollte etwas zur Schau stellen, das ich hoffentlich bald haben würde. Aber auf
gar keinen Fall durfte jemand die neuen Rundungen bemerken, geschweige denn
kommentieren.
Rückblickend
glaube ich, dass es weniger darum ging, mit meinen „Brüsten“ aus Luft
aufzufallen, sondern darum, unterzutauchen, indem ich nicht als flachbrüstig
hervorstach. Um meine Ruhe zu haben, musste ich wirken wie eins von den anderen
Mädchen. Ich erinnere mich noch sehr plastisch daran, wie meine beste
Schulfreundin K. und ich zu H&M gingen und all unser erspartes Taschengeld
ausgaben, weil wir es niemals gewagt hätten, unsere Mütter oder gar Väter nach
Geld für BHs und Tangas zu fragen. Wir hatten auch erwogen, die BHs zu klauen,
aber die Vorstellung, dass unsere Väter uns wegen Spitzenunterwäsche auf der
Polizeiwache abholen mussten, war am Ende zu abschreckend.
Das
Gefühl, das ich damals empfand – eine Mischung aus abgrundtiefer Scham und
ohnmächtiger Wut darüber, dass jemand es wagte, meine persönlichen Grenzen zu
überschreiten, indem er*sie etwas Offensichtliches ansprach –, kommt mir heute
ziemlich universell vor. Ich würde
behaupten, dass es den Leser*innen dieses Textes zumindest in der ein oder
anderen Situation ähnlich ging. Für mich war dieses Gefühl wiederkehrend: Es
hat mich durch meine gesamte Kindheit und Jugend begleitet und ließ sich auch
im Erwachsenenalter niemals so richtig abschütteln.
Diese
Erfahrung mit Scham hat nicht zuletzt mit Queerness zu tun.
Als
ich mich mit 19 bei meiner Mutter als lesbisch geoutet habe, war ihr zweiter
Satz (nach der Frage nach Enkelkindern): „Aber gell, du ziehst dich dann immer
noch schön an?“ Mit schön meinte sie
wahrscheinlich feminin. Ich sollte
keine Butch werden, kein Mannsweib, keine Kampflesbe. Ich versicherte meiner
Mutter, dass sich dahingehend nichts ändern würde. Ich log, aber das wusste ich
nicht.
Sechs
Jahre später – ich lebte inzwischen viele Kilometer entfernt – musste ich
mich überstürzt bei meinen Eltern als trans* outen, weil ich noch über sie
versichert war und die Post der Krankenkasse zu ihnen geschickt wurde. Ich
schrieb ihnen aus der Ferne eine E-Mail, in der ich mich erklärte. Ich dachte
mir: Diesmal erspare ich mir die Konfrontation mit der ersten affektiven
Reaktion meiner Eltern auf mein Coming-out.
Als
ich ein paar Wochen später zu Besuch war, lief ich in einem gerippten
Männerunterhemd und Boxershorts von meinem ehemaligen Kinderzimmer ins Bad, um
zu duschen. Meine Mutter erspähte mich von der Küche aus und wollte sofort
wissen: „Warum hast du Männerunterhosen an?“ Da war sie wieder: die Scham.
Dasselbe Gefühl wie damals. Ich dachte, ich wäre darüber hinweg. Ich dachte,
ich wäre inzwischen resilient gegen solche Konfrontationen. Gegen die Fragen
und Meinungen von erwachsenen Menschen, die ein anderes, nicht queeres Leben
führen.
Es
sprach so vieles aus dieser scheinbar unschuldigen Frage, die meine Mutter mir
stellte. Eigentlich sagte sie: Du bist
doch eine Frau. Ich denke, du solltest eine Frau sein und bleiben. Ich will
meine Tochter behalten. Warum versuchst du, ein Mann zu sein? Lehnst du
Weiblichkeit ab? Richtet sich das gegen mich? Bist du bald ganz haarig? Kannst
du das wieder rückgängig machen?