AfD-Politiker Höcke nennt in einer Rede stark überhöhte Zahlen deutscher Vertreibungsopfer – und behauptet, dass damalige Gebietsverluste völkerrechtswidrig gewesen seien. Ein Wissenschaftler erkennt darin ein „Kernmotiv extrem rechter Geschichtspolitik“ und eine Relativierung von NS-Verbrechen.
Sonntag im Heinrich-Heine-Kurpark im Thüringer Heilbad Heiligenstadt. Vor dem Kriegerdenkmal, das an die im Ersten Weltkrieg „gefallenen Söhne unserer Stadt“ erinnert, steht der AfD-Landesvorsitzende Björn Höcke und hält eine Rede zum Volkstrauertag. „Dieser Regierung und diesem Staat geben wir unsere Söhne nicht“, sagt Höcke. „Nein, für die Interessen der Rüstungsindustrie, für Blackrock und für die Nato-Strategie, Russland zurückzudrängen, geben wir unsere wenigen Söhne nicht.“ Dieser Staat müsse „erst mal wieder ein Staat der Deutschen werden“.
So ist es auf einem von Höcke auf YouTube veröffentlichten Video der Veranstaltung zu sehen. Besonders bemerkenswert: Höcke verbreitete in seiner Rede mehrere Falschinformationen in Bezug auf deutsche Todesopfer im Zweiten Weltkrieg. Zum wiederholten Mal nannte er stark überhöhte und damit falsche Opferzahlen und bediente sich damit eines beliebten Instruments des rechtsextremen Geschichtsrevisionismus.
Zudem behauptete Höcke, dass zwischen dem Gründungsjahr 1871 des Deutschen Reichs und der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 „über ein Drittel unseres Vaterlandes völkerrechtswidrig, weil es in den meisten Fällen keine Volksabstimmung gab, abgetrennt“ worden sei.
Diese Aussage ist falsch. Vor der UN-Charta von 1945 waren Gebietsänderungen ohne Volksabstimmung völkerrechtlich üblich und legal. In Bezug auf die Gebietsverluste nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland nach der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 kein souveräner Staat und völkerrechtlich handlungsunfähig.
Die Alliierten übernahmen alles staatliche Handeln. Volksabstimmungen waren nicht vorgesehen und nicht erforderlich. Es gab keine demokratisch legitimierte deutsche Regierung, die Abstimmungen hätte organisieren können. Das macht solche Grenzregelungen nicht illegal. Die Alliierten handelten als Regierungsmächte.
Teil der Nachkriegsordnung ist es, dass die Sieger eines Verteidigungs- und Befreiungskriegs Grenzen festlegen können, um Sicherheit zu gewährleisten und weitere Aggressionen zu verhindern. Die ehemaligen deutschen Ostgebiete, darunter Schlesien, Ostpreußen und Pommern, wurden 1945 unter polnische und sowjetische Verwaltung gestellt – als Teil der alliierten Neuordnung Europas nach dem Nationalsozialismus. Der Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990 bestätigte die endgültigen Grenzen Deutschlands völkerrechtlich. Deutschland erkannte sie freiwillig und souverän an. Damit sind die heutigen Grenzen der Bundesrepublik vollständig völkerrechtskonform.
Zudem vergleicht Höcke mit seiner Aussage zwei historisch völlig unterschiedliche politische Systeme, erklärt das Kaiserreich zum „Normalzustand“ und ignoriert die Ursachen der territorialen Veränderungen: von Deutschland begonnene Angriffs- und Vernichtungskriege. Dies erinnert an nationalistische Opfer- und Verlustnarrative nach den Weltkriegen.
Höcke sprach bei der Gedenkveranstaltung außerdem von „etwa drei Millionen Toten von Flucht und Vertreibung“ sowie später von „2,8 Millionen Menschen“, die während der Flucht und Vertreibung der Deutschen gestorben seien. Im Jahr zuvor hatte Höcke bei der Gedenkveranstaltung in Heiligenstadt von „etwa zweieinhalb Millionen“ Todesopfern gesprochen. Diese Zahlen sind längst widerlegt: Sie stammen vom Juristen Heinz Nawratil. Dieser war Vorstandsmitglied des geschichtsrevisionistischen Vereins Zeitgeschichtliche Forschungsstelle Ingolstadt, ließ sich mehrfach von rechtsextremen Vereinen einladen sowie von rechtsextremen Medien wie der „National-Zeitung“ interviewen.
Frühe Schätzungen waren in den 1950er-Jahren ebenfalls von zwei bis drei Millionen toten Vertreibungsopfern ausgegangen. Diese basierten allerdings nicht auf systematischen Ermittlungen, sondern auf Meldungen aus Vertriebenenverbänden, die teils unvollständig, doppelt oder politisch motiviert waren. Ungeklärte Fälle wie Vermisste wurden als Tote gezählt. Laut dem Historiker Ingo Haar wurden bei den älteren Schätzungen auch die „vermeintlichen deutschen Geburtenausfälle, die Staatsangehörigkeitswechsler, ungezählte Wehrmachtstote, die ermordeten deutschen Juden und Vermisste“ eingerechnet.
Die heutige seriöse Forschung geht von bis zu 600.000 Todesopfern aus. Eine Erhebung des Kirchlichen Suchdiensts aus dem Jahr 1965 nennt 473.000 Vertreibungstote. Historiker Haar nennt in Bezug auf eine im Jahr 1974 im Bundesarchiv erarbeitete Dokumentation, die zuvor von der Bundesregierung in Auftrag gegeben worden war, „zwischen 0,5 bis 0,6 Mio. Personen“ als „Gesamtzahl der deutschen Opfer aus allen Vertreibungsgebieten“. „Die Angabe von Vertreibungsverlusten in der Höhe von über zwei Mio. Opfern (oder mehr) ist unhaltbar“, konstatiert Haar. Laut dem Historiker Mathias Beer liegt die Zahl der Todesopfer von Flucht und Vertreibung der Deutschen „vermutlich deutlich unter der Grenze von einer Million“. Höckes Zahl überzeichnet das Leid deutscher Vertriebener also mehrfach.
„Kernmotiv extrem rechter Geschichtspolitik“
Der Sozialwissenschaftler Jakob Schergaut leitet an der Friedrich-Schiller-Universität Jena das Forschungsprojekt „Geschichte statt Mythen“. „Die Verbreitung massiv übersteigerter Zahlen zu den Opfern von Flucht und Vertreibung ist ein Kernmotiv extrem rechter Geschichtspolitik“, sagt er WELT. „Höcke überhöht Opferzahlen, verkürzt historische Zusammenhänge und präsentiert die Deutschen ausschließlich als Opfer. Durch diese Verdrehung verfolgt er das Ziel, das den Deutschen widerfahrene Leid in die Nähe der Opferzahlen nationalsozialistischer Verbrechen zu rücken – und relativiert die NS-Verbrechen dadurch.“
Höcke teilte auf WELT-Anfrage mit, dass es nach seinem Kenntnisstand „im Kontext von Flucht und Vertreibung zwischen zwei und drei Millionen Todesopfer gegeben“ habe. Dies umfasse die Flucht- und Vertreibungsprozesse, die „lange vor dem 08. Mai 1945 aus den deutschen Ostgebieten und den deutschen Siedlungsgebieten in Mitteleuropa einsetzten und mit dem Kriegsende noch lange nicht abgeschlossen waren“.
Damit konfrontiert, dass Überhöhungen deutscher Opferzahlen ein beliebtes Instrument geschichtsrevisionistischer Argumentationen sind, teilte Höcke mit: „Revisionismus ist die Grundlage jeder Wissenschaft. Alles fließt. Wer sich dieser Grundannahme widersetzt, kann nicht wissenschaftlich arbeiten.“
Eine weitere Falschbehauptung von Höcke bei der Rede in diesem Jahr: „Etwa 500.000 bis eine Million Menschen kamen durch den alliierten Luftkrieg in Deutschland ums Leben.“ Laut Berechnungen des britischen Militärhistorikers Richard Overy für sein Standardwerk „Der Bombenkrieg“ aus dem Jahr 2014 starben in Deutschlands Städten 353.000 Menschen – darunter auch Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die häufig in der Nähe großer Industrieanlagen in Baracken lebten und häufig keinen Zugang zu Schutzräumen hatten. Das Deutsche Historische Museum in Berlin nennt „wohl mehr als 500.000 Menschen“ – nicht aber die doppelt so hohe von Höcke genannte Höchstzahl.
Die Instrumentalisierung der Bombardierung deutscher Städte spielt in der extremen Rechten eine wichtige Rolle. Höcke hatte in seiner Zeit als Geschichtslehrer an der Rhenanus-Schule im hessischen Bad Sooden-Allendorf im März 2006 mit einem Leserbrief in der „Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen“ für Aufruhr im Kollegium gesorgt. In Bezug auf den Bombenangriff auf Dresden im Februar 1945 warf Höcke den Alliierten in dem Brief einen genozidalen Vorsatz sowie eine ethnische Zielgerichtetheit vor: Es sei darum gegangen, „eine möglichst große Zahl deutscher Menschen zu töten“.
Nach WELT-Informationen beklagten Fachkollegen damals einen „rechtsradikalen Hintergrund“. Die Schulleiterin forderte Höcke daraufhin auf, keine Leserbriefe mehr zu politischen Inhalten zu schreiben.
Im Februar 2010, zum 65. Jahrestag der Bombardierung, nahm Höcke in Dresden an einer Neonazi-Demonstration teil, die von der rechtsextremen Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland angemeldet wurde. Die jährliche Demonstration war damals das wichtigste Event der deutschen Neonazi-Szene – mit Tausenden NPD-Mitgliedern, Aktivisten freier Kameradschaften und völkischen Nationalisten unter den Teilnehmern.
Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“. Im September erschien im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke.
Source: welt.de