US-Wahlkampf: Neuer Bericht erklärt, warum Kamala Harris noch verlieren könnte

Auf den Monat genau vor 44 Jahren wurde die entscheidende Frage der US-Politik gestellt. Eine Woche vor den Präsidentschaftswahlen 1980 traten Ronald Reagan und Jimmy Carter zu einer Fernsehdebatte gegeneinander an. Reagan, ein ehemaliger Hollywood-Schauspieler, erwies sich auch als brillanter Wortakrobat. Am Ende der Debatte sprach er in die Kamera: „Nächsten Dienstag werden Sie alle zur Wahl gehen. Sie werden dort im Wahllokal stehen und eine Entscheidung treffen.“ Mehr als 80 Millionen Amerikaner schauten an den Fernsehgeräten zu, als er die entscheidende Frage stellte: „Wenn Sie diese Entscheidung treffen, fragen Sie sich: Geht es Ihnen besser als vor vier Jahren?“

Ein paar Tage später gaben die Wähler ihre Antwort und bescherten Reagan einen Erdrutschsieg in 44 Staaten. Seitdem wurde jeder Präsidentschaftswahlkampf zu einem großen Teil von seiner einfachen, aber wirkungsvollen Frage bestimmt: Geht es den Amerikanern besser als noch vor vier Jahren?

So ziemlich jeder Mainstream-Ökonom würde sagen: Darauf können Sie wetten! Viele gehen sogar noch weiter. „Ich habe gezögert, dies zu sagen, um nicht zu übertreiben“, schrieb Mark Zandi, der angesehene Chefökonom von Moodys, vor ein paar Tagen. „Aber es lässt sich nicht leugnen: Dies ist eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften in meiner über 35-jährigen Tätigkeit als Wirtschaftswissenschaftler.“ Wachstum: steigend. Arbeitsplätze: steigend. Löhne: steigend. Der Wert der Häuser: steigend. Aktienkurse: im Aufschwung. Inflation: sinkend. Kreditzinsen: sinkend.

Im Jahr 2020 warnte Donald Trump, dass seine Niederlage „eine Depression“ auslösen würde. Heute, während Deutschland und Japan mit einer Rezession konfrontiert sind, rühmen Zeitschriften den „Superstar-Status“ der US-Wirtschaft. Doch fragt man die Amerikaner, ob es ihnen besser geht, antworten viele: nein.

Kamala Harris hat nicht nur ein PR-Problem

Nach dem „Reagan’schen Gesetz“ sollte Kamala Harris diese Wahl in der Tasche haben. Als Joe Bidens Nummer zwei kann sie für sich in Anspruch nehmen, für diesen Boom mitverantwortlich zu sein. Stattdessen liegt sie Kopf an Kopf mit einem verurteilten Kriminellen (vergessen Sie nicht: drei Wochen nach dem Wahltag wird ein Richter entscheiden, ob Donald Trump wegen der Schweigegeldzahlungen an Stormy Daniels ins Gefängnis muss). Was die Wirtschaft betrifft, so liegt Trump in den Umfragen regelmäßig vor Harris. Das Thema, bei dem sie eigentlich gewinnen müsste, verliert sie stattdessen.

Wie kommt das?

So sehr sich Washingtons Spitzenpolitiker auch den Kopf zerbrechen, sie können keine gute Antwort darauf geben. Viele in der linken Mitte halten es für ein PR-Problem: Biden habe es versäumt, die Lorbeeren einzufordern, oder die Wähler seien zu dumm, um zu erkennen, wie gut die Dinge laufen. In einem neuen Bericht eines progressiven Thinktanks, der Democracy Collaborative, wird jedoch ein anderer Vorschlag unterbreitet.

Die Autoren untersuchen die gleichen wirtschaftlichen Indikatoren wie alle anderen: Wachstum, Arbeitsplätze, Löhne. Aber sie haben einen viel längeren Zeitraum im Blick als andere. Hinter jedem Diagramm steht die implizite Frage: Geht es Ihnen, Ihrer Familie, Ihrer Gemeinschaft besser als vor zwei, drei, vier Jahrzehnten? Und für viele Menschen lautet die Antwort auf diese Frage: nein.

Nehmen wir das größte Problem: die Löhne. Die Löhne von Lehrern, Büroangestellten, Verkäufern und der großen Masse der US-Beschäftigten, ob Angestellte oder Arbeiter, stagnieren – nicht seit vier oder gar 20 Jahren, sondern seit fast einem halben Jahrhundert. Zieht man die Inflation ab, so sind die durchschnittlichen Stundenlöhne für sieben von zehn US-Beschäftigten kaum gestiegen, seit Richard Nixon im Weißen Haus saß.

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Für den durchschnittlichen US-Beschäftigten, seine Familie und seine Stadt ging es mit der Wirtschaft immer weiter bergab, unabhängig davon, wer das Weiße Haus gewann, welche Richter es an den Obersten Gerichtshof schafften und ob die Analysten einen Boom oder eine Pleite verkündeten.

Biden hat Billionen ausgegeben, um die Wirtschaft anzukurbeln und sich an die Klimakrise anzupassen. Er hat die Gewerkschaften gestärkt und bei Streiks interveniert. Die Diagramme zeigen, dass das etwas bewirkt hat – aber es ist nur ein winziger Anstieg am Ende einer Linie, die ansonsten lange unerbittlich nach unten zeigt. Den Amerikanern geht es besser als vor vier Jahren, nur dass viele im Jahr 2020 in Not waren.

Wie man Trump und Co. endgültig besiegt

Reagan zerstörte ihre Gewerkschaften, Bill Clinton öffnete die Handelsschranken, George W. Bush Jr. schickte ihre Kinder ins Ausland, um dort zu kämpfen und zu sterben, Barack Obama rettete die Wall Street und Trump startete ein gigantisches Protektionismusprogramm. Erst im Jahr 2020 stiegen die Reallöhne für Arbeitnehmer über den Stand von 1973. Das lag nicht daran, dass sie unproduktiv gewesen wären. Es ist nur so, dass die meisten Gewinne an die Spitzenverdiener geflossen sind.

„Selbst wenn Trump verliert, bleibt Amerika sehr anfällig dafür, dass beim nächsten Mal eine viel bösere Kopie von ihm gewinnt“, sagt Joe Guinan, Präsident der Democracy Collaborative. Die einzige Möglichkeit, Trump, J.D. Vance und die „Pluto-Populisten“ zu besiegen, bestünde darin, die Wirtschaft gerechter zu gestalten und die Arbeitnehmer stärker an dem von ihnen produzierten Reichtum zu beteiligen.

Um zu sehen, wie sich das auswirkt, habe ich mich mit Mike Stout unterhalten. Unser erstes Gespräch fand 2012 in einem Restaurant in Pittsburgh statt, in dem Jahr, in dem Obama wiedergewählt wurde. Mike und seine Frau Steffi hatten in der Stahlindustrie von Pennsylvania gearbeitet, mit guten Gewerkschaftslöhnen und Renten. Sie waren zur ersten Amtseinführung Obamas nach Washington gereist und standen in der eisigen Januarkälte. Sie hatten Hoffnungen.

Die Stouts haben alles richtig gemacht. Sie arbeiteten hart, sparten und gaben 50.000 Dollar aus, um ihren Kindern ein Studium zu ermöglichen. Im Jahr 2012 arbeitete ihre Tochter Maura in einem Hotel in der Innenstadt für 14 Dollar pro Stunde (genauso viel wie ihr Vater 1978 verdient hatte). Schon damals bezweifelte sie, dass sie und ihr Mann jemals den gleichen Lebensstandard wie ihre Eltern erreichen würden.

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Während der Pandemie habe die Tochter ihren Job im Hotel verloren, erzählt Mike, sie arbeite nun in ihrer Einzimmerwohnung. Mit 18 Dollar pro Stunde könne sie sich gerade so über Wasser halten. Die 30-Jährige hat sich mittlerweile von ihrem Mann getrennt. Mike ist überzeugt, dass die Geldprobleme einen großen Anteil an der Scheidung haben. Mike selbst ist krankenversichert, was in den USA als Glücksfall gilt, aber die Zusatzbeiträge sind horrend. Er hat jetzt zwei Jobs.

Das Leben der Stouts ist schon seit Jahren festgefahren. Die Grundlage des demokratischen Kapitalismus ist ein altes Versprechen: Morgen wird es besser sein als heute. Aber dieses Versprechen wurde für Mikes Familie und die Haushalte vieler seiner Freunde schon vor langer Zeit gebrochen. Er kennt viele ehemalige Stahlarbeiter in diesem Swing State, die im nächsten Monat Trump wählen werden. Sicherlich sei er ein Lügner, „aber zumindest lügt er ihnen ins Gesicht, anstatt sie zu ignorieren“.

Und was ist mit Mike? „Trump oder Harris: Es ist eine einzige große Einheitspartei“, sagt er. „Es ist die Wall Street, die dieses Land regiert“.

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