Rügen: Jasmund
Knorrig und gedrungen, mit langen Wurzelarmen an der Steilküste klammernd. Die Stämme sind dick bemoost, unter den Kronen blühen Waldmeister und Buschwindröschen, Orchideen wie das Weiße und das Rote Waldvöglein. An ganz wenigen Orten erlebt man den Frühsommer so spektakulär wie auf der Halbinsel Jasmund auf Rügen.
Hier, in Deutschlands kleinstem Nationalpark, steht er noch und ergrünt jedes Jahr neu, einer der letzten Reste des Buchen-Urwalds, der einst große Flächen Europas bedeckte. Daher zählen diese 493 Hektar zum Unesco-Weltnaturerbe „Alte Buchenwälder und Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas“ – ein sperriger Name für das Gefühl, man sei der erste Mensch, der hier umherstreift.
Tatsächlich ist der kleine Nationalpark groß genug, um ihn stellenweise als Wanderer fast für sich allein zu haben. Denn die meisten Besucher sammeln sich am Königsstuhl. Der 185 Meter lange Skywalk, der erst im April 2023 in Betrieb genommen wurde, ist nicht nur ein neuer Touristenmagnet, er schützt die empfindlichen Kreidefelsen auch vor Erosion – und gewährt ganz neue Aussichten auf den Nationalpark.
Hoch oben über dem Königsstuhl beschreibt der schwebende Besucherrundweg eine Schleife. Hier gibt er spektakuläre Blicke frei: auf die 118 Meter hohen Klippen, weiß vor blauem Himmel, die grünen Wipfel dahinter und das Meer tief unten. Im Nationalparkzentrum Königsstuhl informieren WWF-Stationen über Umwelt- und Klimaschutz und die Besonderheiten der uralten Bäume.
Schweden: Muddus
Skandinavien – das steht auch für weite, einsame Wälder. Die ursprünglichsten von ihnen liegen in Lappland im Nationalpark Muddus (Muttos in der Sprache der Samen). Die halbwilden Rentiere des indigenen Volkes grasen seit jeher in diesem Urwaldgebiet.
Nirgendwo sonst in Schweden gibt es so viele Wälder, die von Forstwirtschaft vollkommen unberührt geblieben sind. Die Sümpfe in dieser Wildnis machten es glücklicherweise unmöglich, die heute bis zu 700 Jahre alten Bäume zu schlagen und abzutransportieren.
Inzwischen ist Muddus Teil des Unesco-Welterbes Laponia, das zu den größten unberührten Naturregionen Europas zählt. Wanderwege führen durch den rund 500 Quadratkilometer großen Nationalpark, in dem Luchse, Elche, Vielfraße, Bären und seltene Vögel leben. Beeindruckend sind auch der Muttos-Wasserfall, die über zwei Kilometer lange Schlucht Måskosgårsså – und auf dem Weg dahin die unfassbare Stille des Waldes. Waldbaden könnte hier erfunden worden sein.
Polen: Borkener Heide
Zentraleuropas berühmtester archaischer Wald ist wohl der Białowieża-Urwald in Polen und Weißrussland, ein Unesco-Erbe und Heimat wild lebender Wisente. Das Europäische Bison, zuvor in freier Natur ausgerottet, wurde hier erstmals wieder ausgewildert. Inzwischen durchstreifen etwa 700 dieser Tiere den Wald.
Doch ist Białowieża nicht der einzige Urwald in Polen, in dem man die bis zu einer Tonne schweren Kolosse erleben kann. Sie leben auch in der kaum bekannten Borkener Heide (Puszcza Borecka) im hügeligen Osten Masurens.
Der 230 Quadratkilometer große Laub- und Mischwald ist ein Rest des Galindischen Urwalds, der einst ganz Masuren bedeckte. Heute gibt es vier Schutzgebiete für die hiesigen mehr als 300 Pflanzenarten und zum Teil seltenen Tiere wie Schwarzstörche, Seeadler, Elche und Wölfe.
In der Wisent-Aufzuchtstation in Wolisko kann man die Ur-Rinder von Mai bis Oktober bei der Fütterung aus der Nähe beobachten. Dazu leben mehr als 100 Wisente frei im Urwald – ihre Vorfahren hatten sich durch Ausbruch aus dem Gehege selbst ausgewildert.
Österreich: Rothwald
Hier stehen besonders viele tausendjährige Bäume: Mitten in Niederösterreich ist ein bemerkenswerter Primärwald erhalten geblieben. Der Rothwald ist der letzte große Urwaldrest des Alpenbogens, ein Bergmischwald, dominiert von Rotbuchen, Tannen, Eiben und Fichten.
Zwischen morschen Stümpfen sprießt erneut die nächste Generation von Baumriesen heran. Seit der letzten Eiszeit konnte die Natur hier ungestört wachsen. Wechselnde Besitzverhältnisse verhinderten die Holzwirtschaft, bis Albert von Rothschild 1875 beschloss, den Primärwald zu bewahren.
Heute bildet der 400 Hektar große Urwald den Kern eines Schutzgebietes von internationalem Rang – dem 3500 Hektar großen Wildnisgebiet Dürrenstein. Die Artenvielfalt ist faszinierend: Gut 800 Pilz-, 70 Vogel- und 45 Säugetierarten leben hier, darunter Habichtskäuze, Steinadler und Luchse.
Damit die Natur ungestört bleibt, gilt ein strenges Wegegebot. Auf den markierten Pfaden kann man die Natur wunderbar erwandern. Das „Haus der Wildnis“ mit seiner interaktiven Ausstellung bietet auch geführte Exkursionen an.
Italien: Cozzo Ferriero
In diesem vom Menschen unberührten Wald stehen Buchen, die schon zu Zeiten Martin Luthers und Magellans erster Weltumsegelung wuchsen: Das Naturreservat Cozzo Ferriero liegt eingebettet im süditalienischen Nationalpark Pollino in der Region Basilikata.
Mit rund 192.600 Hektar Fläche ist er der größte des Landes – Wildnis, wohin man blickt. Er ist auch Heimat der ältesten bekannten Buche in Europa, die 620 Jahrringe zählt.
Wahrzeichen des Nationalparks ist aber ein Nadelbaum: die seltene Schlangenhaut-Kiefer. Als Eiszeitrelikt kommt sie nur noch in der gebirgigen Region vor.
Auf den Wanderwegen kann man mit Glück Tiere erspähen. Wobei sich Wildkatze, Uhu, Brillensalamander oder Alpenbock meist gut verbergen. So ist es eben im Urwald: Man sieht die wilden Bewohner nicht – aber sie sehen die Besucher.
Dieser Artikel erschien erstmals im Juni 2023.
Source: welt.de