„Unser Ole“ von Katja Lange-Müller: Eine köstlich-bittere Screwball-Komödie

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Was macht die Prosa der 1951 in Berlin-Lichtenberg geborenen, seit 20 Jahren in Berlin-Wedding lebenden Schriftstellerin Katja Lange-Müller so witzig, was ist ihr Kniff, fragt man sich, nachdem man ihren neuen, knapp 230 Seiten langen Roman Unser Ole (KiWi) gelesen hat. Weggelesen hat. Natürlich auch, weil man dringend wissen wollte, wie die Geschichte des 15-jährigen, kognitiv beeinträchtigten Ole ausgeht, der im Roman plötzlich aus einem Fenster klettert und verschwindet. Der bis zu seinem Verschwinden bei seiner Großmutter Elvira (DDR-sozialisiert) in einem Dorf bei Berlin lebte, einer entlegenen Gegend, die Elvira gegenüber der Mitbewohnerin Ida, westsozialisiert, einmal als „das letzte Loch im Berliner Speckgürtel“ bezeichnet hat.

Ein Kunststück ist schon mal, mit welcher Menschenkenntnis und -freundlichkeit die Schriftstellerin vor allem die weiblichen Figuren Dinge sagen lässt, denken lässt. Die beiden Frauen reden und denken nämlich, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, um einmal im Duktus zu bleiben, also altmodisch, gekünstelt, verklemmt, politisch nicht rundum korrekt. Vor allem Ida, und das ist sehr lustig.

Die 76-jährige lebt aus rein pragmatischen Gründen (schlimme Geldnot!) bei der dominanten Elvira. Die beiden im Charakter grundverschiedenen Frauen haben jedoch mehr miteinander gemein, als sie zu reflektieren in der Lage sind, zum Beispiel die eine lebensprägende Gemeinsamkeit: Sie wurden von ihren Müttern nicht geliebt, wer weiß warum, küchenpsychologisch, weil zu lieben ihren Müttern in (Nach)-Kriegszeiten nicht gut möglich war. Ist geteiltes Leid nicht halbes Leid? Nein, es kommt hier, was sich „entwicklungsromantechnisch“ ja doch anbieten würde, mitnichten zu einer späten Freundschaft unter den Frauen, was eine der bodenständigen, lebensechten „Pointen“ in Unser Ole ist.

Ihrem Buch vorangestellt hat Lange-Müller im Prolog die Entstehungsgeschichte. Entstanden ist der Roman mithilfe von Aufzeichnungen aus einer Gruppentherapie, TeilnehmerInnen und Geschichten wurden verfremdet, um keine Persönlichkeitsrechte zu verletzen. Sowieso, schreibt Lange-Müller lakonisch: zwei, die klagen könnten, seien bereits verstorben. Und, ziemlich wahrscheinlich, dass Lange-Müller – Tochter der ehemaligen DDR-Politikerin Inge Lange, in den 1980ern verließ sie das Land, wonach der Kontakt zur Mutter abbrach – sich selbst verfremdet in ihrem Buch verewigt hat.

Trotz all der Situationskomik ist das kein Volkstheater. Lange-Müller gelingt ein Kammerspiel, in dem gemütsschlichte Frauen auf und ab gehen sowie die Treppe hoch zu Ole. Ida versucht es mit windschiefer Grandezza, sie versucht der Lage Herr zu bleiben, ein Überlebensinstinkt. Elvira neigt zu Schikanen, worunter besonders Ole leiden muss. Bisher war der mit Cola und Bockwürstchen zufrieden. Aber jetzt muss er zum Missfallen von Elvira auch noch regelmäßig masturbieren!

Beide Frauen haben keinen „intellektuellen“ Zugang zu sich. Ida müsste angesichts ihrer Lage verzweifelt sein, aber „fühlen“ kann sie es offenbar nicht, allenfalls küchenpsychologisch. Ihr ist wichtig, in jedem Moment eine gute Figur abzugeben, wie zeitlebens für ihre „Sugar-Daddys“.

Ida ist immer noch eine schöne Frau, besonders in dem lindgrünen Morgenmantel aus glamourösen Zeiten. Womit man beim nächsten Kunstgriff wäre. Unser Ole versprüht den Charme einer Screwball-Komödie, zum Beispiel, wenn Elviras erwachsene Tochter mit besagtem Morgenmantel im Türrahmen steht oder die Dorfpolizisten hereintreten, um im Todesfall von Elvira zu ermitteln. Ach so, ja, die war nämlich nach ein paar Seiten im Roman die Treppe heruntergestürzt.

„Sie durchschauen einander, aber sich selbst kennt keine“, wird zu Anfang die Gruppentherapeutin N. zitiert. Denn die Frauenfiguren, das ist der Witz, vollziehen keine einzige Entwicklung, identifizieren keine einzige Lebenslüge. Auch nicht Elviras Tochter. Aus der Hauptstadt angereist, macht sie, was sie seit Jahren macht: Likör trinken, zur Not Rioja, Kette rauchen, die Story ihres Lebens auftischen: wie die Mutter der Tochter das Kind wegnahm. Ida derweil bleibt nichts anderes übrig, als zu beobachten, was die „Erbin“ im Schilde führt. – Noch ein Zitat ist dem Buch vorangestellt, das einer Teilnehmerin: „Ja, ja. Immer sind die Mütter schuld.“

Unser Ole Katja Lange-Müller Kiepenheuer & Witsch, 2024, 240 S., 24 €

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