In Japan ist das Buch „Leichter Schwindel“ der Schriftstellerin Mieko Kanai ein Kultroman. Bereits 1997 im japanischen Original erschienen, wird es erst jetzt erstmals in Deutschland verlegt
Die 1947 geborene Mieko Kanai ist in Japan eine gefeierte Autorin, Essayistin und Kritikerin
Foto: Richard A. Brooks/AFP/Getty Images
Natsumi und ihr Mann Eiji haben es geschafft: ihre Neubauwohnung in Tokio hat Balkons nach Süden und Osten. Die beiden Kinder freuen sich über den Pool im Hof, und obwohl Natsumi nicht gern kocht, taugt die Einbauküche zum Statussymbol. Und „dann war da noch der Haushalt, in dem es im ersten Jahr nach dem Einzug an Aufgaben nicht mangelte, wenn sie ihn denn richtig führen wollte, und es machte ihr Spaß, die modern ausgestattete und hübsch eingerichtete Wohnung in Ordnung zu halten, aber natürlich erlahmte ihr Eifer bald (…)“. Was folgt, sind Beschreibungen jenes Alltags, von Natsumis Umgebung, vom flirrenden Tokio der Neunzigerjahre, ihrem sozialen Umfeld und ihrer Ehe.
Natsumi – in deren Name das Wort Natsu, also Sommer, enthalten ist – glaubt, sich eine Sommergrippe eingefangen zu haben. Ihr fiebriger Zustand scheint wie ein poetologisches Programm, das sich nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form des Romans zeigt. Leichter Schwindel hat wenige Seiten, gerade einmal 175 mit Nachwort der Autorin, und er hat wenige, dafür lange, ausschweifende Sätze, die Konzentration erfordern und doch immer zugänglich bleiben.
Die Lektüre fühlt sich an, als würde man sich voller Vertrauen in einem Fluss treiben lassen, in dem sich tiefe und schnelle, dann wieder trügerisch seichte Passagen abwechseln, so dass man nie weiß, was hinter der nächsten Biegung wartet. Die Sprache, die Mieko Kanai für den Alltagstrott mit all seinen sichtbaren und vor allem unsichtbaren Vorgängen wählt, ist dicht und reich – es ist vielleicht Natsumis unantastbarer innerer Reichtum, den sie mit niemandem teilt, nicht mit ihrem Mann, den Söhnen oder ihrem Bruder. Ursula Gräfes großartige Übersetzung wird den vielen Nuancen der japanischen Sprache gerecht, indem sie subtil zwischen verschiedenen Registern, Tonfällen und Soziolekten wechselt. Da gibt es ToDo-Listen, Dialoge, Gedankenströme, essayistische Passagen.
Nach ihm in die Badewanne
Dass Mieko Kanais Roman, obwohl schon 1997 im japanischen Original veröffentlicht, erst jetzt auf Deutsch erschienen ist, ist überraschend und auch wieder nicht: Erzählungen, in denen Grusel und Grauen des Alltags überhand nehmen, sind gefragt wie selten. Noch dazu, wenn patriarchale Strukturen aus einem feministischen Blickwinkel betrachtet werden. Auch wenn das bei Mieko Kanai zunächst zurückhaltend passiert: Es gibt Momente, in denen die Protagonistin ein diffuses Unbehagen gegenüber ihrem Mann schildert (sie ekelt sich zum Beispiel davor, nach ihm in die Badewanne zu steigen, und sie achtet darauf, dass seine Unterwäsche stets ordentlich aussieht – damit, sollte er jemals eine Affäre haben, die andere Frau nicht auf den Gedanken kommt, sie hätte den Haushalt nicht im Griff).
Dann solche, in denen unerwartet Gewalt ausbricht. Und durch die Nachbarin, über deren Schönheitsoperationen getuschelt wird, kommt sogar Body Horror ins Spiel. Das Wort „Vertigo“, wie der Schwindel auf Englisch heißt, spielt auf Alfred Hitchcock an. Natsumi ist Fan seiner Filme. Die hochgelobte englische Übersetzung des Buchs durch Polly Barton heißt auch Mild Vertigo. Es ist eben nur ein leichter Schwindel, der ist dennoch und deshalb furchteinflößend.
Die heutige, junge Generation japanischer Schriftsteller*innen hat Mieko Kanai im Allgemeinen und den Roman Leichter Schwindel im Besonderen als wichtige Bezugspunkte in eigenen Werken ausgemacht. Man hört es beispielsweise von Yōko Ogawa und Hiroko Oyamada. Die 1947 geborene Mieko Kanai ist in Japan eine gefeierte Autorin, Essayistin und Kritikerin; die Gelegenheit, sie international (wieder) zu entdecken, könnte gar nicht günstiger sein. Wenn man schon damit begonnen hat, könnte man bei Taeko Kōno weitermachen, deren Erzählungen zuletzt vor dreißig Jahren auf Deutsch erschienen und längst vergriffen sind. Es gibt überhaupt so viel zu entdecken, wenn man nur genau schaut – fast könnte einer schwindlig werden.
Leichter Schwindel Mieko Kanai Ursula Graefe (Übers.) Suhrkamp 2025, 174 S., 23 €
Leichter Schwindel Mieko Kanai Ursula Graefe (Übers.) Suhrkamp 2025, 174 S., 23 €