
In der Slowakei gehen Zehntausende gegen den pro-russischen Kurs des Premierministers auf die Straße. Fico wittert bereits einen „slowakischen Maidan“ und wirft der Opposition Umsturzphantasien vor. Die heftige Reaktion hängt auch mit einem folgenschweren Moment in seiner Karriere zusammen.
Es ist ein weiteres Zeichen für den Unmut in der slowakischen Gesellschaft mit der Regierung von Premierminister Robert Fico: Vertreter von 411 zivilgesellschaftlichen Organisationen beklagen in einem offenen Brief die Maßnahmen, aber auch den Stil von Fico. Die Rede ist etwa von „verbalen Angriffen“ auf die Zivilgesellschaft.
Bereits unmittelbar nach der abermaligen Übernahme der Regierungsgeschäfte im Oktober 2023 – es handelt sich aktuell um seine vierte Amtszeit – wandte sich Fico gegen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die er und seine Mitstreiter regelmäßig als „Soros-nah“ diffamieren.
Der US-amerikanisch-ungarische Milliardär George Soros setzt sich seit vielen Jahren mithilfe seiner Stiftungen für Demokratie und Rechtsstaat in den Ländern Ostmitteleuropas ein.
Im vergangenen Jahr brachte Ficos Regierung ein Gesetz ins Spiel, das NGOs dazu verpflichten soll, öffentlich zu machen, wie sie sich finanzieren und sich unter Umständen das Etikett „aus dem Ausland finanziert“ anzuheften. Die EU-Kommission kritisierte das Vorhaben scharf.
Dem offenen Brief vorangegangen waren Massenproteste gegen Fico. In mehr als zwanzig Städten in der Slowakei gingen zehntausende Menschen auf die Straßen. Allein in der Hauptstadt Bratislava kamen geschätzt 35.000 zusammen, nach Angaben der Organisatoren gar 60.000 – es sind beachtliche Zahlen. Denn in der Slowakei leben gerade mal 5,5 Millionen Menschen.
Viele von ihnen lehnen nicht nur den innenpolitischen Kurs des Linksnationalisten Fico ab; formal ist seine Partei Smer-SSD sozialdemokratisch. Sie sorgen sich vor allem um die außenpolitische Orientierung des Regierungschefs und damit die ihres Landes.
Seit Monaten nämlich stellt sich die Slowakei, seit 2002 Mitglied der Nato und seit 2004 der EU, immer offener an die Seite Moskaus. Der Ungar Viktor Orbán und dessen Pendelpolitik zwischen Moskau und Peking auf der einen und der EU und der Nato auf der anderen Seite dienen Fico dabei als Vorbild.
Waffenlieferungen aus eigenen Beständen an die Ukraine zum Beispiel hat seine Regierung unterbunden, die Sanktionen gegen Russland und die Unterstützungspolitik der europäischen Partner für die Ukraine werden von ihm kritisiert.
Empörung über Besuch bei Putin
Vor Weihnachten vergangenen Jahres besuchte Fico persönlich Wladimir Putin im Kreml. Unter anderem unterhielten sich die beiden Männer über Gaslieferungen in die Slowakei.
Die Empörung in Ficos Heimat über diesen ersten offiziellen Besuch eines slowakischen Regierungsangehörigen in Moskau seit Ausbruch des Krieges im Februar 2022 war groß. Als „verlogenes Theater“ wurde der Schritt von Fico und er selbst als „Kollaborateur“ aus der Opposition heraus bezeichnet.
Viele pro-europäische und Ukraine-freundliche Slowaken trieb dies einen Tag vor Weihnachten erstmals auf die Straßen. Die Empörung hat keineswegs nachgelassen. Die nächste Großdemonstration ist für den 7. Februar angekündigt.
Fico reagiert darauf, indem er der Opposition Umsturzphantasien vorwirft. In der vergangenen Woche berief er deswegen den Sicherheitsrat ein. Zuvor hatte der Inlandsgeheimdienst SIS dem Parlament in einer nicht öffentlichen Sitzung ein Dokument präsentiert, das Ficos Umsturzängste zu bestätigen scheint.
Von einer „Destabilisierung der Slowakischen Republik“ sei laut einer SIS-Sprecherin darin die Rede. Die Opposition wie auch Vertreter der Protestbewegung weisen Anschuldigungen in dem Zusammenhang von sich. Bislang sind die Proteste friedlich geblieben.
Der Regierungschef wirkt fahrig, teilweise paranoid, ist zunehmend aggressiv. Slowakische Kommentatoren rätseln bereits über den emotionalen Zustand Ficos. Glaubt Fico trotz des enormen Widerstands aus der Bevölkerung mit seinem pro-russischen Kurs etwas zu gewinnen, zum Beispiel seine Stammwähler zu binden? Oder handelt er schlicht irrational?
Seine politische Biografie könnte darauf hindeuten. Tatsächlich stellen Massenproteste einen Einschnitt in Ficos Laufbahn dar. 2018 schon, nachdem die Morde an dem Investigativjournalisten Jan Kuciak und dessen Verlobter Martina Kusnirova zu Bestürzung über die Slowakei hinaus geführt hatten, trat Fico nach ähnlich großen Massenprotesten wie heute vom Amt des Premierministers zurück.
Kuciak arbeitete für aktuality.sk, ein Nachrichtenportal, das zu Ringier Axel Springer Slovakia gehört, einem Gemeinschaftsunternehmen der Axel Springer SE (unter anderem WELT und „Bild“) und der Schweizer Ringier AG. Kuciak hatte zu den Verbindungen der organisierten Kriminalität bis hin in slowakische Regierungskreise recherchiert.
Fünf Schüsse auf den Regierungschef
Viele Menschen im Land forderten danach Ficos Rücktritt; es kam auch zu einem Misstrauensvotum gegen ihn im Parlament. Fünf Jahre harrte er schließlich in der Opposition aus.
Im Mai 2024, wenige Monate nachdem er wieder ins Amt gelangt war, wurde nach einer Kabinettssitzung ein Anschlag auf Fico verübt. Ein 71-jähriger Mann feuerte fünf Schüsse auf den Regierungschef ab und verletzte ihn schwer. Fico schwebte mehrere Tage in Lebensgefahr. Erst nach mehreren Monaten konnte er seine Arbeit wieder aufnehmen.
Jene Ereignisse können als Erklärung herhalten, warum Fico gegenüber seinen politischen Widersachern keine versöhnlichen Töne anschlägt und stattdessen gegen den „Liberalismus“ oder die Medien austeilt.
Mit Blick auf die aktuellen Proteste sprach er von der Möglichkeit einer „Maidan-ähnlichen Revolution“ – wobei „Maidan“ für Fico nicht als Freiheitsbewegung zu verstehen sein dürfte, sondern wie für viele pro-russische Akteure als Chiffre für einen aus dem Ausland gelenkten Umsturz.
Dass Fico sich im Ton mäßigt, erwarten die meisten Beobachter nicht. Derzeit eskaliert eine verbale Auseinandersetzung mit Wolodymyr Selenskyj: Als „Feind der Slowakei“ bezeichnete er den ukrainischen Präsidenten, nachdem die Ukraine das Durchleiten von russischem Gas in die Slowakei zum 1. Januar dieses Jahres ausgesetzt hatte.
Es ist ein Schritt, der lange zuvor angekündigt war. Fico droht Selenskyj mit Gegenmaßnahmen, zum Beispiel damit, keinen Strom mehr in die Ukraine zu leiten. Im Messenger-Dienst Telegram warf Selenskyj Fico vor, er bevorzuge Moskau gegenüber den Amerikanern und anderen Partnern.
Derweil nehmen Gerüchte über vorgezogene Neuwahlen wegen der teils wenig disziplinierten Dreierkoalition unter Fico zu. Die Themen könnte der amtierende Regierungschef jetzt schon setzen: angebliche „Umsturzpläne“ der Protestbewegung, der Streit mit der ukrainischen Führung und die Gefahren des „Liberalismus“. Versöhnliche Töne sind das nicht.
Philipp Fritz ist seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG. Er berichtet vor allem aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei sowie aus den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit rechtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Fragen, aber auch mit dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis.
Source: welt.de