Ukrainischer Linker: Zu Händen freie Wahlen fehlen demokratische Standards!

In der Ukraine ist eine Debatte darüber entbrannt, ob die Behörden trotz des anhaltenden Krieges mit Russland die verschobenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abhalten sollten. Der innenpolitische Konsens zu diesem Thema schwindet allmählich, während der Druck von Wladimir Putin, der seit vielen Jahren die Illegitimität des ukrainischen Staates betont, durch Donald Trump noch verstärkt wird.

Präsident Wolodymyr Selenskyj hat unter der Bedingung eines Waffenstillstands und von Sicherheitsgarantien die Durchführung der Wahlen nun zugelassen und das Parlament sogar angewiesen, entsprechende Gesetze auszuarbeiten. Doch was wird die Folge sein? Werden die Wahlen eine Änderung der Regierungspolitik bewirken – oder gar einen Bürgerkrieg entfachen, wie einer der potenziellen Favoriten im Präsidentschaftswahlkampf, der ehemalige Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj, warnt?

Die meisten Ukrainer:innen sind nicht mehr bereit, mit den Wahlen zu warten

Das Thema Wahlen ist seit Sommer 2023 in der Diskussion, als in der Ukraine der Wahlkampf für das Parlament, die Werchowna Rada, beginnen sollte. Dann wurde er jedoch aufgrund des Krieges verschoben, wobei man sich auf Gesetze berief, die Wahlen während des geltenden Kriegsrechts einschränken. Die ukrainische Gesellschaft, voller Hoffnung auf eine erfolgreiche Gegenoffensive, stimmte dem zu. Im Frühjahr 2024, als Präsidentschaftswahlen stattfinden sollten, wiederholte sich die Situation.

Heute sind laut einer soziologischen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) nur noch 57 Prozent der Ukrainer:innen bereit, mit den Wahlen bis zum Ende des Krieges zu warten. Der Anteil derjenigen, die jetzt oder unter den Bedingungen eines vorübergehenden Waffenstillstands Wahlen wollen, ist auf 34 Prozent gestiegen.

Vitaliy Dudin, einer der führenden Aktivisten der linken ukrainischen Organisation „Soziale Bewegung“ (Sozialnyj Ruch), bestätigte dem Freitag, dass selbst innerhalb seiner Organisation die Meinungen zu den Wahlen auseinandergehen. Während das Militär gegen Wahlen während des Krieges ist, ist die Zivilbevölkerung bereit, über die Bedingungen solcher Wahlen zu diskutieren. Beispielsweise könnten elektronische Wahlmittel oder Schutzräume dieses Verfahren inklusiver machen.

Es gibt jedoch auch viel Skepsis, wie Soldat:innen oder die acht Millionen Ukrainer:innen, die auf der Suche nach Asyl aus dem Land geflohen sind, an den Wahlen teilnehmen können. Unklar ist ebenso, wie die Wählerverzeichnisse schnell wiederhergestellt werden können, wenn noch immer fast vier Millionen Flüchtlinge innerhalb des Landes verstreut sind.

Und obwohl Wolodymyr Selenskyj die Wahlen weiter verschieben könnte, da die innenpolitische Opposition diese nicht direkt fordert, kann er die Forderung von Donald Trump nicht ignorieren. Der US-Präsident hatte offen erklärt, dass es für die Ukraine an der Zeit sei, eine neue Regierung zu wählen. Somit stellt sich heute nicht die Frage, ob solche Wahlen stattfinden werden, sondern wann, unter welchen Bedingungen und ob sie wirklich demokratisch sein werden.

Die politische Rechte könnte profitieren

Während der zurückliegenden Kriegsjahre hat sich die Ukraine stark verändert. Sie ähnelt nicht mehr einem Land mit einer Vielzahl von Parteien und politischen Ideen. Alle bedeutenden linken Parteien, einschließlich der Kommunisten und Sozialisten, sind aus der politischen Landschaft des Landes verschwunden. Unter Einsatz repressiver Macht verbot Wolodymyr Selenskyj zuerst ein Dutzend Parteien und beschuldigte sie ohne Gerichtsverfahren einer prorussischen Haltung oder entsprechender Verbindungen. Später wurde gegen 21 politische Parteien aufgrund ähnlicher Vorwürfe gerichtlich vorgegangen.

Die ukrainische Politik rutscht dadurch immer schneller in Richtung Dominanz rechter oder rechtsextremer Parteien wie „Nationalkorps“ ab, das von Andriy Biletsky geführt wird. Noch vor einem Jahrzehnt galten Biletsky und das von ihm mitgegründete Battalion „Azow“ in Europa als neonazistische Organisation, mit der man sich besser nicht einlassen sollte. Während der Kriegsjahre in der Ukraine wurden jedoch große Anstrengungen unternommen, um den Ruf von „Azow“ zu reinigen. Nun gelten Biletsky und seine Partei als ernstzunehmende Kandidaten für die Teilnahme an den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen.

Laut den neuesten Umfragen von KISS (die Umfrage wurde aufgrund der Richtlinie des Instituts, während des Krieges keine Bewertungen von Kandidaten und Parteien zu veröffentlichen, nicht auf seiner eigenen Website veröffentlicht) würden bei Wahlen im Dezember 2025 fast 12 Prozent der Befragten für die Partei „Nationalkorps“ stimmen. Damit würde sie den dritten Platz belegen. Die Bewertung von Biletskys Partei liegt damit vor der regierenden Partei „Diener des Volkes“ und widerlegt die Behauptung, die extreme Rechte habe in der Ukraine wenig Einfluss und Popularität.

Welche Chancen haben prominente Militärpersönlichkeiten?

Die Umfrage zeigte auch das potenzielle Wachstum von Parteien unter der Führung prominenter Militärpersönlichkeiten. Wäre eine Partei beispielsweise vom ehemaligen Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj (derzeit ukrainischer Botschafter im Vereinigten Königreich) gegründet oder geführt worden, hätte sie mit fast 20 Prozent der Stimmen den ersten Platz belegt. Mehr als zehn Prozent der Befragten hätten bei den Wahlen eine Partei unterstützt, die von Kyrylo Budanow, dem Leiter des Hauptnachrichtendienstes (GUR), angeführt wird. Allerdings sind die politischen Ansichten von Budanow und Saluschnyj nicht bekannt, da sie sich bisher nie in der Politik engagiert haben. Daher könnten solche Umfrageergebnisse eher auf die wachsende Popularität der Rechten und des Militärs in der ukrainischen Bevölkerung hindeuten.

Zugleich können nicht alle pro-ukrainischen Parteien und Kandidat:innen unter diesen Bedingungen auf Erfolg hoffen, trotz hoher Umfragewerte. So erzielte die Partei „Europäische Solidarität“ in der oben genannten Umfrage beispielsweise nur 16 Prozent der Stimmen. Der Vorsitzende und langjährige Gegner Selenskyjs, der ehemalige Präsident Petro Poroschenko, ist von den Entscheidungen des aktuellen Präsidenten abhängig. Poroschenko vertritt eine vollständig pro-ukrainische, patriotische Position. Dies hinderte Selenskyj jedoch nicht daran, im Februar dieses Jahres per Dekret Sanktionen gegen Poroschenko zu verhängen, da dieser angeblich eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle.

Trotz des Krieges und seiner Neigung zu autoritären Regierungsmethoden genießt zugleich Wolodymyr Selenskyj nach wie vor hohes Vertrauen: Laut aktuellen Umfragen liegt sein Zustimmungswert bei 61 Prozent. Er hat reale Chancen auf eine Wiederwahl, wird jedoch nicht mehr über eine eigene politische Mehrheit im Parlament verfügen. Dies macht Selenskyjs politische Zukunft ebenso unvorhersehbar – wie einen möglichen Frieden in der Ukraine.

Kürzlich erklärte der ehemalige Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj, dass die Lage im Land zu einer politischen Destabilisierung und der Gefahr eines Bürgerkriegs führen könne. Dies erklärte er im Zusammenhang mit der Frage, wie der Frieden in der Ukraine aussehen wird. Zudem sprach er über die Zukunft des perspektivisch demobilisierten Militärpersonals.

Im Gegensatz zu diesen Warnungen glaubt Vitaly Dudin von der linken Organisation „Soziale Bewegung“, dass Parlamentswahlen der realistischste Weg sind, um die aktuelle politische Krise zu überwinden. Allerdings sollten solche Wahlen unter bestimmten politischen Bedingungen stattfinden: Es sollte keine finanziellen Voraussetzungen für die Teilnahme an den Wahlen geben, die Mindestwahlhürde sollte gesenkt werden und es sollte Urlaub für die Teilnahme an Wahlkampfaktivitäten geben. Dann hätten die Arbeiter:innen seiner Meinung nach eine bessere Chance auf Erfolg.

Einschränkungen von Rechten könnten zu einem Hindernis werden

Die Hoffnungen der Linken auf eine Rückkehr zur großen Politik erscheinen unter den gegenwärtigen Bedingungen zu optimistisch. Schließlich gibt es neben militärischen Bedrohungen zahlreiche interne Gefahren, über die in der Ukraine zunehmend gesprochen wird. Das Parlament ist längst kein unabhängiges politisches Gremium mehr – ebenso wenig wie die Regierung, die vollständig der Macht von Wolodymyr Selenskyj unterliegt.

Seit der Verhängung des Kriegsrechts sind politische Aktivitäten erheblich eingeschränkt: Massenkundgebungen, Versammlungen, Proteste, Streiks und andere Instrumente des politischen Kampfes sind verboten.

Ein weiteres Hindernis für freie Wahlen könnten die erheblichen Einschränkungen der Meinungsfreiheit sein. Eine große Anzahl oppositioneller Medien wurde verboten. Einige von ihnen hatten zwar tatsächlich russische Wurzeln oder Verbindungen, viele andere wurden jedoch allein aufgrund ihrer kritischen Berichterstattung über die Regierungspartei und den Präsidenten einer pro-kremlfreundlichen Haltung bezichtigt. Und obwohl diese Praxis von internationalen Journalistenorganisationen kritisiert wurde, nahm das politische Establishment der EU sie gelassen hin.

Nach der russischen Invasion verstärkten die ukrainischen Behörden den Druck auf die Medien und übernahmen die vollständige Kontrolle über die meisten zentralen Fernsehsender. Im Herbst 2024 wies die Europäische Kommission in ihrem Bericht über die EU-Erweiterung die ukrainischen Behörden offiziell darauf hin, zu pluralistischen Medien zurückzukehren. Ein Jahr später hat sich nichts geändert.

Laut einer aktuellen Studie der Stiftung „Demokratische Initiativen“ ist der Pressefreiheitsindex in der Ukraine, der auf einer Zehn-Punkte-Skala gemessen wird, von 7,6 Punkten im Jahr 2019 auf 5,8 Punkte im Jahr 2025 gesunken. Gleichzeitig geben 73 Prozent der Journalist:innen an, dass Selbstzensur stattfindet, gegenüber 48 Prozent vor zehn Jahren.

Hinzu kommen Tausende Strafverfahren gegen ukrainische Bürger:innen, denen vorgeworfen wird, die russische Invasion oder Kollaboration zu rechtfertigen, nur weil sie Beiträge in sozialen Netzwerken veröffentlicht oder Gespräche an öffentlichen Orten geführt haben. Es wird deutlich, dass die heutige Ukraine noch weniger demokratisch ist, als wir dachten.

Daher muss eine Voraussetzung für die bevorstehenden Wahlen die Rückkehr zu demokratischen Standards sein. Dazu gehören die Aufhebung von Beschränkungen für politische Aktivitäten und die Arbeit von Journalist:innen. Andernfalls könnte sich die Prophezeiung von Walerij Saluschnyj tatsächlich bewahrheiten.

Sergey Guz ist ukrainischer Journalist und lebt in der Industriestadt Kamjanske. Von 2004 bis 2008 leitete er die unabhängige Mediengewerkschaft der Ukraine. Derzeit ist er Mitglied der Journalistischen Ethikkommission des Landes.

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