Jetzt kommt also doch der „Plan B“, den es nach vorheriger Auskunft des deutschen Bundeskanzlers eigentlich gar nicht gab: Damit sich die Ukraine der russischen Invasion weiterhin entgegenstemmen kann, bekommt sie jetzt Geld von der EU. Es stammt aus gemeinsam aufgenommenen Krediten, beschlossen von 24 der 27 Mitgliedstaaten im Wege der „verstärkten Zusammenarbeit“, wie es im EU-Jargon heißt.
Damit tritt Friedrich Merz ein weiteres Mal in die Fußstapfen seiner Vorgängerin Angela Merkel, die ähnliche Garantien einst in der europäischen Staatsschuldenkrise gab (was Merz übrigens nicht kritisierte), in beiden Fällen aus wohlerwogenen geostrategischen Gründen. Um gemeinsame EU-Schulden handele es sich heute so wenig wie damals, wird in deutschen Regierungskreisen versichert. Nur dass die Hilfsempfänger von damals ihre Verbindlichkeiten stets pünktlich bedienten, während es nicht mehr als ein Hoffnungswert ist, dass Wladimir Putin irgendwann Reparationen zahlt oder die Europäer am Ende doch noch auf seine eingefrorenen Guthaben zugreifen.
Es ging auch schon geräuschloser. Seit fast vier Jahren schon unterstützen die Europäer die Ukraine, sowohl was die Militärausgaben als auch die kriegsbedingten Ausfälle im Staatshaushalt betrifft. Die Verhandlungen waren oft anstrengend, vor allem wegen des ungarischen Widerstands. Aber so ernst wie in diesen Tagen war es noch nie, als die Staats- und Regierungschefs in Brüssel um die Hilfen für die kommenden zweieinhalb Jahre rangen. Dass sie nach langem Zögern überhaupt die Idee diskutierten, die eingefrorenen russischen Vermögenswerte im Vorgriff auf künftige Reparationen zu monetarisieren, zeugt von der Not: Aus regulären Haushalten lässt sich das alles nicht mehr bezahlen.
Das hat mehrere Gründe, in erster Linie den Ausfall der Vereinigten Staaten als Geldgeber. Vor dem Amtsantritt des jetzigen Präsidenten Donald Trump hatte der Kongress noch eine letzte Tranche bewilligt, die aber jetzt aufgebraucht ist. Trump ist nach derzeitigem Stand zwar bereit, weiter Waffen zu liefern, aber nur gegen Geld aus Europa. Hinzu kommt, dass auch in der EU selbst der Rückhalt bröckelt. Nach Ungarn haben auch in der Slowakei und in der Tschechischen Republik inzwischen Regierungschefs übernommen, die ihre Wähler nicht mit Zahlungen an Kiew belasten wollen, nicht mal in Form von Garantien.
Viele Staaten haben schlichtweg kein Geld
Hinzu kommt allerdings ein weiterer Grund: Vielen europäischen Staaten geht schlichtweg das Geld aus für die neue Stufe der Zeitenwende. Es geht ja nicht nur um Zahlungen an die Ukraine, sondern auch um die Ertüchtigung des eigenen Militärs. Auf dem jüngsten NATO-Gipfel stellten die europäischen Regierungen künftige Verteidigungsausgaben von fünf Prozent des Sozialprodukts in Aussicht, davon 3,5 Prozentpunkte für die Armee im engeren Sinn. Diese Marke wird nur Polen voll erreichen. Annäherend schaffen es die baltischen Staaten, außerdem Griechenland, das mit seinem traditionell hohen Militäretat allerdings mehr die angespannten Beziehungen zur Türkei adressiert.
Besonders eng sieht es ausgerechnet in den beiden Ländern aus, die Bundeskanzler Friedrich Merz aus naheliegenden Gründen zu seinen beiden wichtigsten Verbündeten im europäischen Konzert der großen drei erkoren hat: Frankreich und das frühere EU-Mitglied Großbritannien. Als Atommächte und ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sind sie die wichtigsten Stützen der angestrebten europäischen Souveränität. Allerdings gab Großbritannien im vergangenen Jahr nur 2,3 und Frankreich sogar nur 2,1 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Verteidigung aus.
Außerdem handelt es sich um zwei der höher verschuldeten europäischen Länder, das reduziert den Spielraum. Die Briten quälen sich schon seit der Finanzkrise von 2008 mit großen Verbindlichkeiten, was nur deshalb nicht zum Problem für die Eurozone wurde, weil sie der Währungsunion nie angehörten. Im Jahr 2022 musste sogar eine Premierministerin nach 49 Tagen zurücktreten, weil sie die Kreditwürdigkeit des Landes ruiniert hatte. Dessen Gesamtverschuldung lag zuletzt bei 100 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung, in Frankreich waren es 113 Prozent.
Frankreich hat nicht mal einen Haushalt
Die innenpolitische Lage macht die Sache nicht einfacher. Frankreich hat seit dem übereilten Neuwahl-Entschluss des Präsidenten Emmanuel Macron vor anderthalb Jahren keine handlungsfähige Regierung mehr, die Haushaltsaufstellung für 2026 scheiterte just am Morgen nach der Brüsseler Verhandlungsnacht. Um sich überhaupt im Parlament zu behaupten, musste Premier Sébastien Lecornu den weiteren Anstieg des Renteneintrittsalters aussetzen, was den Staatshaushalt weiter belasten wird.
Wie schwierig die Lage ist, zeigt auch Macrons Rücksicht auf die Landwirte und den daraus folgenden Widerstand gegen das wichtige Mercosur-Abkommen, von dem er vergeblich gehofft hatte, dass es auch ohne ihn eine qualifizierte Mehrheit finden werde. Über allem schwebt die Drohung, dass jedwedes Opfer für die neuen weltpolitischen Prioritäten den Rechtspopulisten in spätestens anderthalb Jahren den Weg in den Élysée-Palast ebnen werde.
Ein neuer Unsicherheitsfaktor, den wichtige Akteure lange übersahen, ist die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni. Nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine war man in den übrigen europäischen Hauptstädten zunächst positiv überrascht, wie eisern sie sich an die Seite des überfallenen Landes stellte, emotionale Ausbrüche gegen die Putinversteher in der römischen Abgeordnetenkammer inklusive.
Merz hat die Italiener ignoriert
Der Amtsantritt Donald Trumps hat allerdings einiges geändert. Anfangs waren andere europäische Regierungschefs froh, in Meloni eine Kollegin mit guten Drähten ins Weiße Haus zu haben. Inzwischen zeigt sich aber, dass daraus ein Loyalitätskonflikt entsteht. Hinzu kommt, dass der deutsche Kanzler in seinen europa- und weltpolitischen Initiativen die drittgrößte Volkswirtschaft der EU, noch dazu ein Gründungsmitglied, geradezu demonstrativ überging. Er trat mit Franzosen und Briten auf, zog Polen bei Bedarf hinzu – und lud Meloni nur zu Treffen ein, an denen auch weniger wichtige Länder teilnahmen. Das stieß in Italien nicht nur dem Regierungslager auf.
Auch Meloni hat wenig haushaltspolitischen Spielraum. Unter ihren Anhängern ist sie zwar nach wie vor populär, allerdings riefen die Gewerkschaften erst kürzlich zum Widerstand gegen ihre Sparpolitik auf. Trotz einer Gesamtverschuldung von 135 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung liegt die laufende Neuverschuldung nur knapp über der magischen Grenze von drei Prozent, Ratingagenturen stuften die Kreditwürdigkeit des Landes zuletzt herauf. Soll es dabei bleiben, ist der Spielraum für Militärausgaben oder Ukrainehilfen begrenzt.
Weit mehr in Bedrängnis als Meloni ist der britische Labour-Premier Keir Starmer. Einerseits fördert die satte Unterhausmehrheit die Zentrifugalkräfte in der eigenen Partei, zugleich führen die Populisten um Nigel Farage in den Umfragen. Unter diesen Umständen erscheint es fast ausgeschlossen, politische Mehrheiten für neue Zeitenwende-Prioritäten zu gewinnen, die zwangsläufig Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen mit sich brächten.
Populisten machen gegen Ukrainehilfen mobil
Der Aufstieg der Populisten fördert auch andernorts nicht den Ruf nach neuen Prioritäten. In Deutschland wirbt die AfD vor heiklen Landtagswahlen mit einem Rentenniveau von 70 Prozent nach österreichischem Vorbild, in der Tschechischen Republik hat der Unternehmer Andrej Babiš gerade die Wahl mit dem Versprechen gewonnen, nicht mehr so viel Geld für die Ukraine-Unterstützung auszugeben. Selbst im stramm Putin-kritischen Polen bröckelt die Solidarität dort, wo es eigene Interessen betrifft, etwa in der Agrarpolitik oder bei der Aufnahme von Flüchtlingen.
Die Hoffnung, eine wachsende Wirtschaft könne die nötigen Spielräume schaffen, erweist sich auf absehbare Zeit als nicht sehr realistisch. Hierzulande werden die mauen deutschen Wachstumsraten bedauert, die bescheidenen Prognosen liegen nach Jahren der Stagnation für 2026 bei knapp einem Prozent. Allzu viel mehr ist es allerdings auch in anderen westeuropäischen Ländern nicht, die zuletzt besser dastanden als die Bundesrepublik. Selbst wenn sich der alte Kontinent dazu aufraffen könnte, seinen Innovationsrückstand aufzuholen: Die weltpolitischen Krisen begrenzen die Wachstumschancen, die man für ihre Überwindung eigentlich bräuchte.
Unter den großen europäischen Ländern hat am ehesten noch Deutschland einen Spielraum für neue Kredite, weshalb es auch so etwas wie einen Anker darstellt für die Bonität der jetzt gemeinsam aufgenommenen Kredite. Ein Teil des Spielraums ist allerdings durch die jüngsten Beschlüsse für Schuldenbremsen-Ausnahmen schon aufgebracht. Davon fließt immerhin Geld in eine bessere Ausstattung der Bundeswehr, ohne dass damit allerdings das avisierte 3,5-Prozent-Ziel erreicht würde. Der Rest geht vor allem in die Infrastruktur, teils aber nur, um im regulären Haushalt den Spielraum für konsumtive Ausgaben zu erweitern. Die neue Liebe zum Bauen ist europapolitisch insofern pikant, als die Deutschen anderen Ländern wie Spanien jahrelang vorhielten, zu viel Geld für schnelle Bahnstrecken oder üppig dimensionierte Flughäfen zu verplempern.
Kommen irgendwann höhere Steuern?
Das alles wäre noch ein kleineres Problem, hätten wir noch eine Nullzinsphase. Inzwischen müssen die Staaten für ihre Anleihen aber wieder spürbare Zinsen bezahlen, die den Spielraum für zusätzliche Ausgaben weiter einschränken.
Das Kieler Institut für Weltwirtschaft wies dieser Tage darauf hin, dass längere Aufrüstungsphasen historisch betrachtet stets höhere Steuersätze nach sich zogen. „Ein Blick in die Vergangenheit liefert Anhaltspunkte dafür, dass auf die Steuerzahler dadurch auch langfristig finanzielle Belastungen zukommen“, heißt es in einer Analyse. Dass US-Präsident Franklin D. Roosevelt den Spitzensteuersatz 1944 auf 94 Prozent erhöhte, hatte aber vor allem verteilungspolitische Gründe. Und höhere Sätze in der Breite erscheinen heute wenig realistisch, angesichts von Wirtschaftsflaute und ohnehin verbreitetem Unmut in der Bevölkerung.
Auch deshalb suchten die Regierungen den Ausweg zuletzt in der Konstruktion der Reparationskredite. Im Hintergrund lief dabei immer die Frage mit, welche Hürden die nötigen Garantien in den einzelnen Mitgliedstaaten nehmen müssten, nicht nur in Deutschland gibt es dafür einen Parlamentsvorbehalt. Durch die jetzt gefundene Konstruktion – Anleihen über die bestehende Ukraine-Fazilität, besichert über den EU-Haushalt – wird dieses Problem allerdings umgangen.
Vor dem Hintergrund all dieser Schwierigkeiten erscheint es nur allzu verständlich, dass der deutsche Kanzler den Weg über die Reparationskredite suchte, um dem russischen Präsidenten die Entschlossenheit der Europäer zu demonstrieren und ihn von seiner Hoffnung abzubringen, der Ukraine werde irgendwann die Puste ausgehen. Langfristig wird eine Zeitenwende, die unter dem Strich die europäischen Länder nichts kostet, allerdings eine Illusion bleiben.