Mögliche nukleare Bedrohungen bestimmten die Diskussionen in der Nacht. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte mit der Ansage irritiert, einen russischen Atomwaffeneinsatz mit Präventivschlägen zu verhindern. Die Äußerungen fielen während eines Videoauftritt beim Lowy Institut in Sydney. Kremlsprecher Dmitri Peskow warf Selenskyj anschließend vor, er rufe zum „Dritten Weltkrieg“ auf. Selenskyjs Sprecher versicherte, der ukrainische Präsident sei falsch verstanden worden, er habe vielmehr gesagt, vor Beginn des russischen Angriffskriegs seien präventive Maßnahmen nötig gewesen, um den Krieg zu verhindern.
In seiner abendlichen Videoansprache ging Selenskyj nicht mehr darauf ein, sprach aber erneut über die von Russland ausgehende atomare Gefahr. Er forderte den Westen auf, den Druck auf die Regierung in Moskau hochzuhalten – auch um die Rückgabe des annektierten AKW Saporischschja zu erzwingen. „Ich danke allen für ihre Unterstützung, die für die Rückgabe der vollen ukrainischen Kontrolle über das Kraftwerk und dessen vollständige Entmilitarisierung kämpfen“, sagte der Präsident. Die 500 russischen Soldaten in der Nuklearanlage bezeichnete er als Katastrophenrisiko.
US-Präsident warnt vor „Armageddon“
Joe Biden sieht die Gefahr einer atomaren Konfrontation mit katastrophalen Folgen nach Drohungen aus dem Kreml. Die Welt habe seit der Kuba-Krise 1962 nicht vor der Aussicht auf ein „Armageddon“ gestanden, sagte Biden bei einem Auftritt in New York. Er kenne Putin ziemlich gut, sagte der US-Präsident demnach. Der russische Machthaber scherze nicht, wenn er über den potenziellen Einsatz taktischer Atomwaffen sowie Chemie- und Biowaffen spreche.
Tote und Vermisste nach Raketenangriff
Im südukrainischen Saporischschja stieg die Zahl der Toten nach zwei russischen Raketenangriffen auf mindestens sieben. In der Stadt wurden nach ukrainischen Angaben mehr als 40 Wohnhäuser zerstört. Mindestens fünf Menschen werden demnach noch vermisst, mehr als 20 sind aus mehrstöckigen Gebäuden gerettet worden. Die russische Armee soll bei dem Angriff Flugabwehrraketen eingesetzt haben, die eigentlich als Abwehrwaffen konzipiert sind.
Die Region Saporischschja ist eine von vier ukrainischen Regionen, die der russische Präsident Wladimir Putin am Mittwoch per Unterschrift völkerrechtswidrig annektiert hat. Das dortige Atomkraftwerk ist ebenfalls von Russland besetzt. Die Gebietshauptstadt wird aber von der Ukraine kontrolliert.
Weitere Ereignisse der Nacht in Kürze:
- Die Internationale Atombehörde IAEA geht weiter von einer gefährlichen Lage am AKW Saporischschja aus. Ein Atomunfall sei nach wie vor eine „sehr, sehr klare Möglichkeit“, sagte der IAEA-Chef Rafael Grossi in Kiew. Zur Sicherung soll eine nukleare Sicherheits- und Schutzzone um das Kraftwerk errichtet werden. Darüber verhandelt Grossi nach eigenen Angaben mit der Ukraine und Russland.
- Nach Aussage des ukrainischen Präsidenten haben sich Tausende russische Soldaten zurückgezogen, seit die Frontlinie zunächst im Nordosten und seit Wochenbeginn auch im Süden zusammengebrochen ist.
- Selenskyj zufolge haben ukrainische Streitkräfte inzwischen mehr als 500 Quadratkilometer und Dutzende Ortschaften im Gebiet um Cherson zurückerobert. Zuvor war von 400 Quadratkilometern die Rede.
Das wird heute wichtig:
- Marie-Agnes Strack-Zimmermann spricht in der ukrainischen Hauptstadt mit Vertretern der Regierung und Angehörigen der Streitkräfte. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag besucht auch
Orte, in denen ukrainische Truppen gegen die russischen Angreifer gekämpft hatten. Es der erster Besuch der FDP-Politikerin in Kiew, sie war zuvor bereits mit Politikern von SPD und Grünen in der Ukraine. - Der russische Machthaber Wladimir Putin feiert heute im Konstantins-Palast in St. Petersburg seinen 70. Geburtstag. Eingeladen sind die Staatschefs der Sowjetnachfolge-Organisation Gemeinschaft Unabhängiger Staaten.
- Bei den Gesprächen der europäischen Länder in Prag dürfte es um die Auszahlung bereits zugesagter Finanzhilfen an die Ukraine in Höhe von drei Milliarden Euro gehen. Die EU hat immer wieder betont, das angegriffene Land so lange zu unterstützen wie nötig. Zudem dürften Scholz und seine Kollegen über die weitere militärische Hilfe beraten.