Ukraine/Russland: Wie aus verfeindeten Brüdern unerbittliche Feinde wurden

Ein Abend in Kiew, bevor man Kyjiw sagen sollte: Der Andrejewski Spusk war noch nicht der „Montmartre der Ukraine“ mit Straßenkünstlern und hell erleuchteten Bars. Im Dunkeln liefen wir über Kopfsteinpflaster, begleitet von wilden Hunden. In einem Hausflur empfing uns eine Frau, der man die einstige Schönheit ansah. Als Geliebte Michail Bulgakows war sie uns versprochen worden: Aber sie war doch nicht die „Margarita“ aus seinem berühmten Roman Der Meister und Margarita?

Tagsüber hatte es ein deutsch-sowjetisches Literaten-Treffen gegeben. Jedes Jahr in einer anderen Sowjetrepublik fand Derartiges statt. Wer aus der DDR dabei war, weiß ich nicht mehr. Von den ukrainischen Autoren waren es vielleicht Oles Hontschar, Michailo Stelmach, Juri Stscherbak und Wolodymyr Drosd, deren Werke der DDR-Verlag Volk und Welt aus dem Ukrainischen übersetzen ließ. Dass wir uns auf Russisch verständigten, galt als normal, so wie Michail Bulgakow für mich ein russischer Schriftsteller war . Dass er in Kiew geboren wurde und dort auch Medizin studierte, war mir lange nicht bewusst.

Sowieso hat Kiew im russischen Selbstverständnis eine enorme Bedeutung. Die „Kiewer Rus“ verband einst Gebiete von Belarus, der Ukraine und Russlands. In seinem Politthriller Das Goldene Tor von Kiew hat der Autor Alexander Rahr die Gründung dieses slawischen Großreichs durch den Warägerfürsten Rjurik im Jahr 880 beschrieben. Dass dessen Urenkel Wladimir zum orthodoxen Glauben übertrat, 988 das gesamte Volk der „Kiewer Rus“ taufen ließ und die kyrillische Schrift einführte, blieb schicksalhaft bis heute. Die Trennung zwischen West- und Ostkirche, 1054 von Byzanz und Rom herbeigeführt, spaltet seither Europa. Zwischen 1223 und 1240 zerfiel die Kiewer Rus unter dem Ansturm von Tataren und Mongolen, bis das Fürstentum Moskau die russische Erde wieder einzusammeln begann.

Die Ostukraine wurde 1654 gegen Polen dem Schutz des Zaren unterstellt

Hintergründe heutiger Konflikte sind im Buch Alexander Rahrs verdichtet. Wie polnische Truppen 1610 bis 1612 den Kreml besetzten und den polnischen Prinzen Władysław IV. Wasa zum Zaren krönten, der später auf den Thron verzichten musste, wurde mir erst durch diese Lektüre bewusst. Gleiches trifft auf die Symbolik zu, die im Titel Das Goldene Tor von Kiew steckt. Er bezieht sich auf jene Kiewer Sehenswürdigkeit, der Modest Mussorgski in seinem Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung den letzten Satz widmete: Das Heldentor. So genannt, weil Bogdan Chmelnitzkyj mit seinen Saporoger Kosaken hindurchmarschierte und die Ostukraine 1654 – gegen Polen – dem Schutz des Zaren unterstellte.

In einem schützenden Großreich zu leben, sei für die Mehrheit der Ukrainer von Vorteil gewesen, heißt es im Buch. Aber das betraf die Ostukraine. Die Westukraine hatte über Jahrhunderte zu Polen gehört und fiel ab 1772 unter die Herrschaft der Habsburger Monarchie. Als es mit dieser 1918 zu Ende war, kochten die Konflikte hoch. Eroberungen und Rückeroberungen – polnische, ukrainisch-nationalistische Kräfte und Bolschewiki im Widerstreit. Der Roman Die Weiße Garde von Michail Bulgakow handelt 1918, als Kiew unter deutsche Besatzung gerät.

Ein Marionettenregime entstand, das weißgardistische Offiziere gegenüber den Bolschewiki als kleineres Übel betrachteten. Wie es 1919 aussah, als die Bolschewiki in Kiew die Macht übernommen haben, zeigt der jüngst erschienene Krimi Das Galizische Bad von Andrej Kurkow. Der in Kiew lebende, russisch schreibende Autor führt eine Stadt vor Augen, die aus einem Sammelsurium verschiedener ethnischer Gruppen besteht: Polen, Juden, Ukrainer, Russen, dazu noch viele Chinesen. Der durch die Oktoberrevolution angeheizte Hass der Armen auf die Reichen ist groß.

28 nackte Rotarmisten waren aus einer Sauna verschwunden, und der Ermittler Samson muss sich inmitten alltäglicher Kriminalität zurechtfinden. „Wird der Hetman zurückkehren oder werden die Bolschewiken an der Macht bleiben?“, überlegt er, als er vor einem Denkmal für Zar Nikolaus I. steht. „Kommen vielleicht die Weißen und machen Kiew zur Hauptstadt Tauriens? Oder tauchen Machno und seine Leute wieder auf und plündern die Stadt so lange, bis sie wieder in ihr fröhliches Leben in Jekaterinoslaw zurückkehren?“.

Viele Bandera-Leute haben nach 1945 als Emigranten in Westdeutschland gelebt

Doch die Gründung der „Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ am 22. Januar 1919 war erst einmal unumkehrbar. Bis auf Wolhynien und Ostgalizien, die bis 1939 polnisch blieben, Transkarpatien, das bis 1938 zur Tschechoslowakei gehörte, bevor es an Ungarn fiel, und die Bukowina, die bis heute zwischen Rumänien und der Ukraine geteilt ist, wurden mit der Sowjetrepublik die West- und Ostukraine zusammengeführt. Sie waren historisch unterschiedlich geprägt durch Habsburger und russische Traditionen, durch ein katholisches und ein russisch-orthodoxes Erbe.

Der Anteil der jüdischen Bevölkerung war enorm. Schätzungen zufolge lebten vor dem Zweiten Weltkrieg rund zweieinhalb bis drei Millionen Juden in der Ukraine. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 begann ihre systematische Vernichtung.

Nicht vergessen werden sollte, dass im damaligen deutschen Machtbereich vom Februar 1943 bis zum Kriegsende etwa 100.000 Polen von ukrainischen Nationalisten ermordet wurden. Aktiv daran beteiligt war der Bandera-Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die von Nazideutschland bereits vor 1939 unterstützt worden war. Viele OUN-Mitglieder, auch Stepan Bandera (1909-1959) selbst, haben nach 1945 als politische Emigranten in Westdeutschland gelebt. In der Ukraine gibt es bis heute einen Bandera-Kult.

Dabei ist der ukrainische Nationalismus – immer wieder gegen die Sowjetunion in Stellung gebracht – im 19. Jahrhundert den revolutionären Kräften in Russland sogar genehm gewesen, weil er sich mit Kritik am Feudalsystem verband. Die Bolschewiki sahen darin eine Gegenkraft zum großrussischen Chauvinismus. Entsprechend gelobt wurde in der Sowjetunion der revolutionär-demokratische Dichter Taras Schewtschenko (1814-1861) als Begründer der ukrainischen Nationalliteratur.

Rund 130 Sprachen in 15 Sowjetrepubliken – die multiethnische Bevölkerung für die sozialistische Idee zu gewinnen und die reaktionären einheitsrussischen Kräfte zu schwächen, war in der jungen Sowjetunion politisches Programm. Zugleich aber sollten keine konkurrierenden Machtzentren entstehen. Darin bestand das Dilemma der sowjetischen Nationalitäten-Politik, die zunächst die ukrainische Sprache förderte und den Anteil von Ukrainern in sowjetischen Machtstrukturen vergrößerte, was Josef Stalin (1878-1953) dann als Bedrohung empfand und entsprechend reagierte.

1954 schenkte Chruschtschow der Ukraine die Halbinsel Krim, eine eher symbolische Geste

Nikita Chruschtschow (1894-1971), dessen politische Laufbahn in der Ukraine begann, wurde 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU zu Stalins Ankläger. 1954 hatte er Kiew zur Feier guter Beziehungen mit Russland die Krim geschenkt, die 171 Jahre lang russisch gewesen war. Eine eher symbolische Geste, alles war ja sowjetisch. Dass auch sein Nachfolger Leonid Breschnew (1906-1982) ukrainische Wurzeln hatte, wussten die wenigsten.

Michail Gorbatschow (1931-2022), im Nordkaukasus in einer russisch-ukrainischen Bauernfamilie geboren, strebte für die einzelnen Sowjetrepubliken, nicht zuletzt mit einem neuen Unionsvertrag, mehr Selbstbestimmung an, ohne zu ahnen, welche Fliehkräfte er freisetzte. Als sich die Präsidenten von Russland, Weißrussland und der Ukraine am 8. Dezember 1991 in der Staatsdatscha Wiskuli in der Belowescher Heide hinter seinem Rücken über das Ende der UdSSR verständigten, hatte sich sein Traum von einer neuen Union in einem Gemeinsamen Haus Europa erledigt.

Welche innen- und außenpolitischen Folgen es hat, wenn ein wirtschaftlich, militärisch und kulturell vernetztes Staatsgebilde abrupt zerrissen wird, hatten sich der Russe Boris Jelzin, der Ukrainer Leonid Krawtschuk und der Weißrusse Stanislaus Schuschkewitsch bei genügend Wodka offenbar nicht vorstellen können oder wollen. Dass der Zerfall der Sowjetunion westlichen Interessen entgegenkam, mussten sie wissen. Gefallen mochte ihnen haben, dass die reicheren postsowjetischen Länder in einer künftigen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) nicht mehr für die ärmeren aufkommen mussten. Auch persönlich kamen ihnen die neuen Machtkonstellationen vermutlich zugute, führten sie doch nun unabhängige Staaten. Dass dies nationalistische Ambitionen förderte, lag auf der Hand. Bereits 1990 hatten sich Litauen, Estland und Lettland aus der UdSSR verabschiedet, die Ukraine folgte Ende 1991. Begraben jedoch wurde die Sowjetunion von den drei slawischen Brudervölkern, die sich noch verbündet wähnten. Zwischen Russland und der Ukraine sollte sich das schon in den 1990er Jahren als Irrtum erweisen.

Bis heute ist der Russlandhass der Balten – geostrategisch durch die NATO-Mitgliedschaft sicher von Belang – für Moskau leichter zu verschmerzen als der in der Ukraine. Aus verfeindeten Brüder wurden unerbittliche Feinde. Auch wenn sie früher oder später aufhören sollten, gegeneinander Krieg zu führen, so werden die Wunden auf beiden Seiten weiter schmerzen. Wie lange die einander zugefügten Kränkungen nachwirken, darüber lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal spekulieren – kein Vergleich mit dem Riss, wie er sich zwischen dem Osten und Westen Deutschlands ergeben hat.

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