Ukraine-Krieg | Mariupol: Die Zerstörung einer Stadt

Mehr als 80 Tage lang bombardierte die russische Armee Mariupol, entschlossen, die ukrainische Hafenstadt einzunehmen, selbst wenn sie sie dafür dem Erdboden gleichmachen muss.

Nachdem die russischen Streitkräfte im vergangenen Mai den ukrainischen Widerstand endgültig niedergeschlagen hatten, machten sie sich daran, Mariupol ihren Stempel aufzudrücken und die Spuren der jüngsten Gräueltaten und der ukrainischen Vergangenheit in der Stadt zu verwischen.

Ein Jahr nach dem Einmarsch in die Ukraine erzählt der Guardian die Geschichte von Mariupol, dem vielleicht blutigsten und schockierendsten Kapitel von Russlands brutalem Krieg.

Invasion von Mariupol

Mariupol begrüßt das neue Jahr 2022 in gelassener Stimmung. Als eine starke Windböe den Weihnachtsbaum der ukrainischen Stadt erfasst und die vielen beleuchteten Zweige auf den Boden krachen lässt, flüstern einige misstrauisch Veranlagte, dass das ein schlechtes Omen für das kommende Jahr sein könnte.

Aber die meisten Leute achten wenig auf das lauter werdende Gerede über die feindseligen Pläne des russischen Präsidenten Wladimir Putin für die Ukraine. An die Vorstellung von Krieg ist man hier gewöhnt nach den Ereignissen von 2014, als russische Stellvertreter:innen das in der Nähe liegende Donezk einnahmen und auch Mariupol kurzzeitig besetzt hatten. Die Frontlinie kurz außerhalb der Stadt ist seit Jahren kaum verändert. Gelegentliche militärische Auseinandersetzungen gehören zur Lebensrealität, aber die Idee einer echten Invasion scheint wirklichkeitsfremd.

In den ersten sieben Wochen des Jahres verläuft das Leben mehr oder weniger ganz normal. An kalten Abenden sitzen die Menschen in Cafés und rauchen Shisha; Teenager kichern, während sie auf der Eisbahn hinter dem Theater ausrutschen. In einem nahegelegenen Restaurant tanzt an einem Samstagabend eine Gruppe von Frauen zu einem Sänger, der auf Russisch und Englisch singt; die Ehemänner bleiben sitzen und kümmern sich um ihr Bier.

Nur wenige Leute werden unruhig und räumen ihre Keller frei, um sie als Bunker auszustatten. Sie legen einen Vorrat von Lebensmitteln in Dosen an. Häufig werden sie von Freund:innen aufgezogen, die das für exzentrisch halten.

Und dann, in den frühen Morgenstunden des 24. Februar, geht es los.

Gegen fünf Uhr morgens erreicht die leitenden Mitarbeiter:innen von Polizei und anderen städtischen Dienststellen ein Anruf, der bestätigt, dass militärische Angriffe begonnen haben, und sie in ihre Büros beordert. Die meisten von ihnen sind bereits wach, geweckt durch den Lärm der russischen Artillerie.

Um elf Uhr vormittags beruft Bürgermeister Wadym Bojtschenko eine Pressekonferenz ein. Bereits jetzt seien drei Zivilist:innen tot und sechs verletzt, berichtet er. Die Stimmung im Raum ist angespannt, aber Bojtschenko versichert den wenigen anwesenden Journalist:innen, Stadtregierung und Behörden sowie die Schlüsselinfrastruktur arbeite weiter. Das Leben werde weitergehen. „Keine Panik“, sagt der Bürgermeister. „Wir sind bereit, für Mariupol und die Ukraine zu kämpfen.“ Drei Tage später werden er und der Großteil seiner Mitarbeiter:innen aus der Stadt fliehen.

Der Angriff aus dem Westen überrascht die ukrainischen Streitkräfte

In diesen ersten Tagen beschränken sich die Kämpfe auf die Außenbezirke der Stadt. Verwundete Soldat:innen kommen von der Front in die Krankenhäuser. Hunderte Freiwillige melden sich, um Blut zu spenden. Es kommt zu langen Schlangen an Geldautomaten und Tankstellen. Aber die öffentlichen Verkehrsmittel fahren noch, und einige Menschen machen stoisch weiter, als wäre alles normal, und fahren zur Arbeit.

Am Bahnhof eilt ein junges Paar am Bahnsteig entlang, Koffer hinter sich herziehend und eine Katze im Arm. Weinende Eltern packen ihre Kinder in Evakuierungszüge in Richtung der Hauptstadt Kiew. Aber die Züge fahren halbleer ab. Bis die meisten Leute realisieren, was kommt, wird es zu spät sein, um Mariupol zu verlassen. Nach Osten steht die Verteidigung der Stadt, weil alle einen möglichen Angriff der Russen dort erwarteten. Auf eine Invasion von Westen aus dagegen ist man nicht vorbereitet. Doch russische Truppen strömen über die schmale Landenge von der Krim in Richtung Mariupol, und innerhalb weniger Tage ist die Stadt eingekesselt.

Praktisch sofort legen die Russen die Strom-, Wasser- und Gasversorgung lahm. Die Menschen schmelzen Schnee, um Wasser zu gewinnen, und kochen im Freien über offenem Feuer. Der Telefonempfang bricht ab. Ein Informationsvakuum entsteht. Die letzten Geschäfte schließen ihre Türen und werden bald von Menschen geplündert, die verzweifelt nach Lebensmitteln suchen. Als die Kämpfe heftiger werden, schleppen die Leute Matratzen in die Treppenhäuser der Wohnblocks oder ziehen in ihre dunklen und eiskalten Keller. Einige Menschen sind zu alt oder zu gebrechlich, um sich zu bewegen. Die meisten von ihnen werden nicht überleben.

Im Krankenhaus Nummer eins im östlichen Teil der Stadt kommt der Traumatologe Serhiy Mudryi am 28. Februar für eine 48-Stunden-Schicht ins Krankenhaus. Es ist zu gefährlich, sich in der Stadt zu bewegen, daher schläft der Arzt im Krankenhaus. Am Ende wird seine Schicht 40 Tage gedauert haben; in dieser Zeit verlässt er das Krankenhaus nur einmal, um seine Familie zu holen und in den Betten auf einer leeren Station einzuquartieren. Die meisten anderen Ärzt:innen fliehen. Bald ist nur noch ein stark reduziertes Team übrig: Mudrji, zwei Chirurg:innen, ein Anästhesist und ein paar Krankenpfleger:innen.

Komplizierte Operationen sind nicht mehr möglich

Häufig kommen neue Verletzte an, Soldat:innen ebenso wie Zivilist:innen. Nicht lange, da fahren keine Krankenwagen mehr. Die Patient:innen kommen jetzt in Privatautos, gefahren von Verwandten, die außer sich sind vor Sorge. Es muss viel kommen, um einen Traumatologen mit jahrzehntelanger Arbeitserfahrung zu schocken, aber das zerhackte Fleisch und die zerquetschten Körper, die Mudryi jeden Tag sieht, drehen ihm den Magen um.

Die Ärzt:innen haben nicht die Zeit für komplizierte Operationen, die nötig sind, um Körperteile zu retten. „Nach einer Operation erfordern Wunden viel Pflege. Es besteht ein großes Infektions- und Wundbrandrisiko, das zum Tod führen kann“, erklärt Mudryi den Patient:innen. Wann immer jemand jetzt eine schwere Verletzung hat, amputieren die Ärzte. Der Patient verliert zwar einen Arm oder ein Bein, aber hat eine größere Chance zu überleben.

Als sich die Kämpfe in die Vororte verlagern und immer mehr Gebäude unter Beschuss geraten, kommen viele Menschen aus der Umgebung und ziehen in die Kellerräume des Krankenhauses. Eine 92-jährige Frau erzählt Mudryi, dass sie gekommen ist, weil sie sich daran erinnerte, dass sie sich während des Zweiten Weltkriegs an dem gleichen Ort versteckte.

Die Hoffnung, dass Krankenhäuser vom Schlimmsten verschont würden, erwies sich als naiv. Auf der anderen Seite der Stadt wird eine Entbindungsstation bombardiert und Fotos einer blutverschmierten, hochschwangeren Frau, die sich durch die Trümmer kämpft, schockieren die Welt. Offizielle russische Stellen behaupten, die Frau sei eine Schauspielerin.

Kurz darauf kommen in der türkischen Urlaubsstadt Antalya der russische und der ukrainische Außenminister zu einem Treffen zusammen. Es sind die Gespräche auf höchster Ebene seit Beginn des Krieges. Die beiden Männer sprechen mehr über Mariupol als über alles Andere. Der russische Außenminister Sergei Lawrow blickte seinem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba in die Augen und sagte, auf der Entbindungsstation des Krankenhauses hätten sich keine schwangeren Frauen, sondern ukrainische Kämpfer:innen befunden. „Leider kann ich bestätigen, dass die russische Führung, darunter Minister Lawrow, in ihrer eigenen Realität lebt“, sagt Kuleba. Die Gespräche werden nach 90 Minuten abgebrochen, ohne dass man sich auf irgendetwas geeinigt hätte.

Belagerung

Ohne Handyempfang verbreiten sich Gerüchte in der Stadt über Feuerpausen und Evakuierungskorridore, aber es gibt keine verlässlichen Informationen. Werden die ukrainischen Truppen sie herauslassen? Werden die Russen sie auf dem Weg beschießen? Sind die russischen Truppen schon in Kiew? Niemand weiß es genau.

Die Kampfhandlungen werden so stark, dass kurz zu einem Brunnen oder einem Fluss zu gehen, um Wasser zu holen, zu einer Mission ohne Rückkehr werden kann.Während Bombardierungspausen, heben die Leute flache Gräber aus und begraben die Toten vor Ort.

In einem Wohnblock im Zentrum eilt Mitte März eine Gruppe von Männern hinaus, um mehrere ältere Frauen zu begraben, die beim Kochen über einem offenen Feuer in einem Hof getötet wurden. Ähnliche Szenen wiederholen sich überall in der Stadt. „Ich kannte diese alten Frauen mein ganzes Leben lang. Sie saßen vor dem Wohnblock auf den Bänken, hielten ein Schwätzchen und vertrieben sich die Zeit“, erinnert sich Witalij, einer der spontanen Totengräber. „Und dann muss man die Augen dieser Frauen schließen und sie in ihrem eigenen Innenhof begraben.“

In anderen Teilen der Ukraine versuchen Leute, verzweifelt Kontakt zu Verwandten in Mariupol aufzunehmen, um herauszufinden, ob sie noch am Leben sind. Immer wieder hören sie nur die automatische Ansage: „Diese Rufnummer ist nicht erreichbar.“ Manche verfolgt der Satz mit Albträumen bis in den Schlaf.

Alle paar Tage gibt es einen kurzen Moment, in dem ein Empfangsbalken erscheint und die Telefone mit Nachrichten aufleuchten. Manchmal löst eine verspätet eingetroffene Nachricht eine Welle der überwältigenden Erleichterung über ein Lebenszeichen aus, in anderen Fällen bestätigt sie die schlimmsten Befürchtungen. Mit fortschreitender Zeit werden manche Leute wütend und hysterisch, weil ihnen aufgeht, dass es keinen sicheren Weg aus der Stadt gibt und sie in ihren Kellern sterben könnten, durch die Kälte, den Hunger oder die Bomben.

Mit Kaffee und Schminke Normalität schaffen

Die Aktivistin und Rechtsanwältin Maryna Puhachova entwickelt ein Morgenritual, das ihr hilft, ruhig zu bleiben: Kurz nach Sonnenaufgang geht sie mit Nachbar:innen nach draußen, holt etwas Schnee und kocht es über einer Flamme, um Kaffee zuzubereiten. Kurz darauf sitzt sie am Fenster, der einzigen Lichtquelle in ihrer Wohnung und schminkt sich. Bomben sind unerbittlich, und neben dem Fenster ist der gefährlichste Platz, aber sie empfindet die Routine als beruhigend.

Einige in der Nachbarschaft sehen, was sie tut, und vermuten, sie sei verrückt geworden. Aber dann beginnen sie, es ihr gleichzutun. Nach kurzer Zeit ist ein Morgenritual etabliert, bei dem mehrerer Frauen an ihren Fenstern sitzen, sich zuwinken und sich schminken. Es ist ein kurzer Moment der Menschlichkeit, der sie am Laufen hält.

Tagsüber, wenn der Beschuss nachlässt, fährt Puhachova quer durch die Stadt zu einer Verteilstelle, wo Freiwillige Lebensmittel sammeln und sie an Orte bringen, von denen sie wissen, dass dort viele Menschen in Kellern Schutz suchen. Viele Jahre lang arbeitete Puhachova in den Dörfern um Mariupol herum für eine Organisation, die Leuten, die an der Frontlinie leben, rechtliche und psychologische Unterstützung bietet. Sie ist es gewohnt, unter Druck zu arbeiten. Aber mit jedem Tag werden die Fahrten durch die Stadt haariger. Sie sieht brennende Autos und Leichen, die von streunenden Hunden angenagt werden.

Dabei wird sie Zeugin von finsterem Egoismus, etwa Leuten, die versuchen, geplünderte Waren zu verkaufen, um damit Geld zu machen, aber auch von Gesten bemerkenswerten Mutes und der Güte, etwa Leute, die ihr letztes Essen oder Medizin mit Menschen teilen, die in noch größerer Not sind. Wenn sie die Keller aufsucht, um Essen zu bringen und die Verzweiflung in den Gesichtern der Menschen sieht, tut sie ihr Bestes, um ein zuversichtliches Gesicht aufzusetzen. Sie kann spüren, dass es den Leuten Halt gibt, jemanden zu sehen, der stark und fröhlich bleibt, zumindest nach außen hin.

Theater-Bombardierung

Als weitere Wohnblocks getroffen werden und die Evakuierungswege aus der Stadt hinaus verschlossen sind, versammeln sich viele Leute in öffentlichen Schutzräumen. Einer dieser Orte ist das Theater, in dem rund tausend Menschen Schutz suchen. An das mit Säulen geschmückte Gebäude schreibt jemand in riesigen russischen Buchstaben „DETI“ – Kinder.

Am 11. März kommt der Stahlarbeiter Oleksandr Khodzhava gemeinsam mit seinen Eltern, seiner Frau und zwei kleinen Töchtern im Theater an. Schwere Granateneinschläge in der Nähe ihres Wohnblocks brachten die Gipsdecke ihres Kellers zum Einsturz. Nachbarn erzählten ihnen, dass das Theater zu einer Flüchtlingsunterkunft geworden ist und daher von Einschlägen verschont bleiben sollte.

Bei ihrer Ankunft findet die Familie auf dem kalten Boden des Kostüm-Lagers neben Nähmaschinen und Stoffresten Platz zum Schlafen. Dreimal am Tag erhalten sie eine magere Ration Essen: heißes Wasser zum Frühstück, Suppe zum Mittagessen und einen Keks zum Abendessen.

Früh am Morgen des 16. März ziehen sie in den Keller, in einen Kontrollraum voller Elektronik, weil sie meinen, dass es dort sicherer sei. Der Boden ist mit weicher Polsterung bedeckt, der aus Stühlen und Sesseln herausgerissen wurde. Oleksandr geht, um bei der Essenszubereitung zu helfen, während seine Frau die jüngere Tochter mit hoch in das Kostüm-Lager nimmt, um dort die Reste von ihrem Aufenthalt dort aufzuräumen. Oleksandrs Eltern Serhiy und Iryna bleiben im Keller. Irgendwo in der Entfernung hören sie das schwache Motorengeräusch eines Flugzeugs. Kurz darauf gibt es einen Blitz und eine riesige Explosion.

In dem Theater in Mariupol suchten viele Familien Zuflucht. Im April wurde es vom russischen Militär zerstört. Schätzungen gehen von 600 Toten aus

Foto: Imago/Itar-Tass

Die Explosion wirft Serhiy drei Meter durch den Raum und reißt die Kellertüren heraus. Alles ist mit kalkigem Staub bedeckt; dicker Rauch hängt in der Luft. Er schafft es, sich zu befreien, aufzustehen und aus dem Keller zu klettern. Der Boden ist mit Blut bedeckt, und durch den Rauch sieht er zwei Männer, die einen weiteren aus den Trümmern ziehen. Seine Stiefel sind nur noch durch blutige Haut an den Beinen befestigt, alle Knochen sind weg.

Im Flur an der Treppe findet Serhiy seine Frau und ihre älteste Enkelin, aber Oleksandr wurde von den Trümmern zerdrückt. Oleksandrs Frau Anastasia und ihre kleine Tochter Karolina, die ihm Kostümlagerraum waren, werden ebenfalls vermisst. Obwohl er benommen ist und unter Schock steht, weiß Serhiy beim Anblick der Theaterruine, dass es keine Chance gibt, dass einer der drei überlebt hat.

Serhiy und seine Frau laufen mit ihrer überlebenden, zum Waisenkind gewordenen Enkeltochter Valeriya an der Hand im Schock durch die Straßen in der Nähe des Theaters. Der Staub in der Luft lässt sie husten und sie wissen nicht, was sie tun sollen.

Nach einiger Zeit wird eine Familie in einem Auto durch Valeriyas Weinen aufmerksam. Die Familie will sich gerade auf den Weg auf den riskanten Weg aus Mariupol heraus machen und bietet den Dreien an, sie mitzunehmen. Sie schaffen es in ukrainisch-kontrolliertes Gebiet. Dort müssen sie ein neues Leben beginnen, ohne nennenswerten Besitz und mit einem verheerenden Gefühl des Verlustes.

Russland behauptet zunächst, das Theater habe ukrainische Truppen beherbergt. Später ändert es die Geschichte und besteht darauf, ukrainische Streitkräfte hätten das Theater „als Provokation“ in die Luft gejagt. Die Beweise deuten jedoch auf einen russischen Luftangriff hin. Nach Schätzungen der Presseagentur Associated Press starben bei der Attacke 600 Menschen.

Mariupols Zusammenbruch

Die letzten Überbleibsel der ukrainischen Staatsgewalt in Mariupol schwinden schnell. Am 15. März wird beschlossen, dass Polizeiarbeit nicht mehr möglich ist. Etwa die Hälfte der Polizeikräfte aus der Vorkriegszeit ist noch in der Stadt, viele von ihnen schlafen auf dem Boden in verbarrikadierten Polizeistationen und gehen auf Streife, wenn sie können. Jetzt müssen sie eine Entscheidung treffen.

Einige schließen sich der Armee an, andere versuchen, die Stadt auf Wegen zu verlassen, die mit zahlreichen Checkpoints gespickt sind, an denen russische Soldaten nach allen suchen, die pro Ukraine sind. Bald werden die Russen „Filtrationszentren“ einrichten, um alle, die Mariupol verlassen, zu befragen. Dort gibt es Leibesvisitationen und langwierige Verhöre, aber im Moment läuft alles noch ungeregelt.

Artem Kisko, der stellvertretende Leiter der Polizei der Region, erzählt an einem Checkpoint eine schnell erfundene Geschichte: Er sei ein Kaffeehändler, der seine Dokumente verloren habe. Schnell werden die Soldaten der langwierigen Ausführungen über Kaffeelieferungen müde. Sie lassen ihn durch.

Ein anderer Polizist aus Mariupol wird an einem Checkpoint von einem früheren Kollegen aus Donezk erkannt, der 2014 auf die russische Seite überging und jetzt in der Armee der selbst ernannten Volksrepublik Donezk dient. Der Soldat erkennt seinen alten Kollegen sofort und droht ihm zunächst. Doch gerade als er sich umdreht, um seinen Vorgesetzten zu berichten, dass er einen ukrainischen Polizisten gefasst hat, verändert sich etwas in seinem Blick. „Fahr los”, flüstert er und winkt das Auto durch den Checkpoint. Zitternd fährt der Polizist weiter und erreicht sicher von der Ukraine gehaltenes Gebiet.

Leben und Schicksale hängen von solchen Sekundenbruchteilen ab. Bei vielen anderen Gelegenheiten werden ukrainische Polizisten, Beamte oder Aktivisten erkannt und zum Verhör oder Schlimmerem in russische Keller verschleppt.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz drängt Kiew und Moskau, einen humanitären Korridor zu schaffen, um die Zivilbevölkerung sicher und geordnet aus Mariupol herauszulassen, doch es wird keine Einigung erzielt.

Viele Menschen versuchen den Spießrutenlauf trotzdem, fahren über die Frontlinien und trotzen den zahlreichen russischen Kontrollpunkten. In der Stadt gibt es kein Benzin mehr. So werden Sitzplätze in Fahrzeugen, die genug Sprit für die Fahrt haben, ein begehrtes Gut, um das man handelt und bittet. In der südukrainischen Stadt Saporischschja sind die Autos, die aus Mariupol kommen, leicht zu erkennen: Passagiere quetschen sich darin wie Sardinen in der Büchse und häufig sind die Fenster herausgeschossen. Die meisten Menschen bleiben in der Stadt gefangen, ohne Informationen oder Transportmittel, um sie zu verlassen. Von Tag zu Tag werden die Kämpfe stärker. Die humanitäre Lage verschlechtert sich.

Strom gibt es nur noch, wenn jemand schwer Verwundetes operiert werden muss

Im Hospital Nummer eins arbeiten der Traumatologe Mudryi und die beiden Chirurg:innen jetzt bei Tageslicht. Den Generator schalten sie nur ein, wenn es absolut medizinisch notwendig ist, besseres Licht zu haben oder elektronisches Gerät zu nutzen. In den Kellerräumen wird mit dem Humor der Verzweiflung über die absurde Tatsache gewitzelt, dass die Einlieferung eines schwer Verwundeten ein Moment zum Feiern ist. Dann wird der Generator angeworfen und es gibt die Möglichkeit, Handys aufzuladen oder einen Kessel mit Wasser heiß zu machen.

Nach Einbruch der Dunkelheit benutzen die Ärzt:innen kleine improvisierte Öllampen, um schwaches Licht zu machen. Mudryi erinnert das an die Memoiren des gefeierten russischen Arztes Nikolai Pirogow, der während des Krimkriegs als Feldchirurg operierte. Innerhalb von einem Monat fühlt sich Mudryi vom 21. ins 19. Jahrhundert zurückversetzt. Das kleine Team ist gezwungen, Operationen zu machen, für die es keine Erfahrung mitbringt. Einmal kommt eine Hochschwangere schwer verletzt ins Hospital. Die Ärzte amputieren ein Bein. Die Frau überlebt, hat aber eine Fehlgeburt.

Viele Leute können nicht gerettet werden und bald ist der Leichenkeller überfüllt. Explosionen bringen die meisten Krankenhausfenster zum Zerspringen. Mudryi und seine Familie bringen ihre Matratzen in den Flur, um sicherer zu schlafen. Eines Tages im März fährt der verbliebene Anästhesist Oleksandr Zhuk ein kurzes Stück, um einen Patienten aus dem Krankenhaus an einen anderen Flüchtlingsschutzort zu bringen, aber auf dem Rückweg wird sein Auto beschossen und er wird mehrfach getroffen. Zhuk schafft es zurück ins Krankenhaus, aber auch nur gerade so: Sein Auto kracht in das Krankenhausgebäude, während der Arzt über dem Lenkrad zusammengebrochen ist und schnell Blut verliert.

Bevor er das Bewusstsein verliert, sagt Zhuk den anderen Ärzten, welches Beruhigungsmittel sie ihm geben sollen, und flüstert ihnen seine Blutgruppe zu. Mudryi und die Chirurgen versorgen die Wunden und führen im Halbdunkel eine Bluttransfusion mit dem Blut von jemandem im Keller durch, der die gleiche Blutgruppe hat. Irgendwie kommt Zhuk durch. Mit jedem Tag rücken die Kämpfe näher, und im Krankenhaus wird es gefährlicher. Ende März beschließen sie, den Generator nicht mehr zu benutzen. Er ist so laut wie ein Panzer. Mudryi befürchtet, er könnte Aufmerksamkeit erregen und das Krankenhaus zum Angriffsziel machen.

Foto: Dmytro ‚Orest‘ Kozatskyi/Azov Special Forces Regiment of /AFP via Getty Images

Sie teilen zehn Patient:innen, die regelmäßig Nierendialyse benötigen, mit, dass die Geräte nicht mehr angeschaltet werden. Sechs von zehn kämpfen sich aus dem Bett. Sie verlassen das Krankenhaus zu Fuß in Richtung Frontlinie in der Hoffnung, dass sie den Fußmarsch überleben und rechtzeitig ein Krankenhaus im russisch-besetzten Donezk erreichen, um eine Dialyse zu erhalten. Vier sind zu schwach, um sich zu bewegen, und bleiben in ihren Betten, um zu sterben.

Anfang April kommt es um das Krankenhausgelände herum zu Straßen-Nahkämpfen. Drei Tage lang sind Mudryi und die anderen Ärzte im Keller eingeschlossen, während 40 Patienten, die zu krank sind, um sich zu bewegen, in den Betten auf Station liegen. Am 6. April stecken russische Soldaten den Kopf in den Keller. Sie verkünden, dass sie das Gebiet nun kontrollieren und eine Evakuierung stattfinden wird. Als Mudryi nach draußen tritt, sind die Krankenhausgebäude mehrfach getroffen worden. Er erfährt nie, ob seine Patient:innen überlebt haben oder lebendig verbrannt sind.

Am Ende der Kämpfe sind laut einer Schätzung 82 von 106 Krankenhäusern und anderen Gesundheitseinrichtungen in Mariupol zerstört oder beschädigt.

Asowstal

Die Russen drängen von allen Seiten in Richtung des Zentrums von Mariupol. Mitte April zieht die ukrainische Armeeführung alle verbliebenen Verteidigungstruppen der Stadt imAsow-Stahlwerk zusammen, einem riesigen Hüttenwerk, das Mariupols Skyline beherrscht.

Das 1933 gebaute Asow-Stahlwerk ist eine Stadt in der Stadt, ein ausufernder Industriepark mit dutzenden riesigen Stahlhallen. Unterirdisch gibt es ein großes Netzwerk von Kellerräumen, von denen einige nach dem Konflikt 2014 zu Bunkern ausgebaut wurden. Das Werk dient als provisorisches Hauptquartier des Asow-Regiments, einer ukrainischen Freiwilligen-Truppe mit Verbindungen zur extremen Rechten, die die Stadt erstmals 2014 verteidigte. Das Regiment führt jetzt die Verteidigung von Mariupol an. Ihre Mitglieder bestehen darauf, dass sie ihre frühere dubiose Politik abgelegt haben. Sie werden schnell zu ukrainischen Helden.

Andere Einheiten kämpfen sich zum Stahlwerk durch. Der frühere Polizist Swiatoslaw Jermonow, der im März in die Armee eintrat, kommt mit einem Konvoi aus der Hafengegend an, der auf dem Weg stark unter Beschuss kam. Rund ein Drittel seiner Truppe seien dabei erschossen worden, schätzt er. Eine andere Gruppe Kämpfer behauptet, sie habe es geschafft durchzukommen, indem sie ihre Fahrzeuge mit russischen Z-Symbolen beschmierte und durch die feindlichen Linien raste.

Die Asow-Kommandeure teilen Jermonow und seinen Männern eine Position auf dem Werkgelände zu. Sie arbeiten in Schichten und ruhen sich in den Kellerräumen aus, wenn sie von ihren Verteidigungspunkten zurückkommen. Zwei Keller sind gefüllt mit Zivilist:innen. Als der Krieg begann, hatte der Werkdirektor Mitarbeiter:innen und deren Familien angeboten, dort Schutz zu suchen. Er hatte nicht erwartet, dass die ukrainische Armee das Tunnelnetzwerk ebenfalls als perfekten letzten Verteidigungsort gegen die Russen sehen würde.

In allen Kellern verschlechtern sich die Bedingungen ständig. Manche Teile sind so staubig und dreckig, dass die Kleider und die unbedeckten Hautstellen der Soldaten schnell von einer dicken Schmutzschicht überzogen sind. Essen ist auf eine Mahlzeit am Tag rationiert; in ihren kurzen Pausen gehen Jermonow und sein Team auf die Suche nach übriggelassenen Vorräten in den Bunkern. Es gibt viel Schwarztee, zurückgelassen von den Stahlarbeitern. Zucker zu finden, ist dagegen ein seltener Erfolg und Grund zum Feiern.

Zivilist:innen flohen in die Bunker des Asow-Stahlwerks

Foto: Imago/Cover-Images

Die Russen schicken Drohnen, um oberirdische Bewegungen zu entdecken, und Flieger, wenn sie eine potenzielle Position ausgemacht haben. „Zuerst kamen die Flugzeuge zu zweit, dann in Vierergruppen. Sie warfen Bomben auf die Fabrikgebäude und auf die Bunker“, erinnert sich Jermonow später. Die Stahl- und Betonkonstruktionen sind erstaunlich robust. Jermonows Hangar hält trotz schwerer Bombardierungen zwei Wochen lang.

Ende April hat Asowstal für beide Seiten eine epische Symbolik angenommen. Für die Russen machte der Rückzug aus Kiew Ende März die ursprünglichen Kriegspläne des Kremls zunichte. Daher wird Mariupol wichtig als fassbarer Erfolg, selbst wenn die Stadt zerstört werden muss, um sie zu erobern. Für die Ukrainer:innen wird das letzte Aufgebot in der Asow-Stahlfabrik zu einer David-und-Goliath-Geschichte des heldenhaften Widerstands.

Die Russen werfen große FAB-Bomben ab, die den Boden durchschlagen und die Keller erreichen. Dabei wird durch die Wucht der Explosion eine Wand gegen die andere geschleudert, die die dazwischen liegenden Wände unter sich begraben. Dmytro Kosatskij, Presseoffizier beim Asow-Regiment, wacht eines Nachts plötzlich auf und denkt, er sei aus dem Bett gefallen. Im Bunker ist es viel kälter als sonst. Als er aufsteht, sieht er, dass ein Großteil der Wand verschwunden ist und er zum Teil im Freien steht.

Nachdem er eine Jacke und Flip-Flops angezogen hat, dreht er sich um und sieht einen Mitsoldaten, mit Blut bedeckt auf dem Boden seufzend in den letzten Atemzügen liegen. Zwölf Menschen sterben bei dem Angriff.

Als die Bedingungen immer unerträglicher werden, plant der ukrainische Militärgeheimdienst eine Reihe gewagter Helikopterflüge, um Vorräte in die belagerte Fabrik zu bringen. Die Piloten fliegen nur einige Meter über dem Boden und hoffen das Beste. Nicht alle kehren lebend zurück.

Die kleinen Hubschrauber können bei weitem nicht für ausreichende Vorräte für die 3.000 Menschen sorgen, die sich noch im Werk befinden, aber sie bringen ausschlaggebende Ausrüstung: Starlink-Geräte, die es den Asowstal-Verteidigern erlauben, jeden Abend Fotos und Videos herauszuschicken. Kosatskijs Fotografien von geschwächten, mit grausamen Wunden bedeckten aufgebahrten Soldaten, gehen um die Welt.

Asowstal steht jetzt im Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit. Der UN-Generalsekretär fliegt nach Moskau, um bei Wladimir Putin die Einrichtung eines Korridors zu erreichen, über den die Zivilist:innen das Gelände verlassen können. Die Frauen von Kämpfern reisen in den Vatikan, um die Unterstützung des Papstes zu erbitten. Am 1. Mai schließlich vermitteln die Vereinten Nationen und das Internationale Rote Kreuz eine Vereinbarung zwischen den beiden Kriegsparteien, die den Zivilisten den Weg aus der Fabrik sichert.

Foto: Dmytro ‚Orest‘ Kozatskyi/Azov Special Forces Regiment of /AFP via Getty Images

Ein ICRC-Team schläft in einem Zeltlager außerhalb der Stadt und fährt ins Zentrum, um die Freilassung zu begleiten. Eine der Rote Kreuz-Mitarbeiter:innen, Mariateresa Cacciapuoti, kennt Mariupol gut, weil sie schon vor dem Krieg Zeit dort verbrachte. Sie ist geschockt vom Ausmaß der Zerstörung, die sie auf der Fahrt in die Stadt sieht.

Während einer kurzen Waffenruhe kommen langsam Menschen aus einem Loch zwischen eingestürzten Betonplatten hervor, wo ein Luftangriff einen der Bunker getroffen hatte. „Sie waren körperlich und psychisch leidend“, erinnert sich Caciapuoti später. „Sie waren so weiß; sie hatten die Sonne seit Wochen nicht gesehen.

Nachdem die Zivilist:innen weg sind, diskutieren die Russen über die Erstürmung des Werks. Inmitten von Gerüchten über eine Kapitulation diskutieren viele Kämpfer:innen drinnen, ob es besser wäre, bis zum Ende zu kämpfen oder sich auf eine selbstmörderische Ausbruchsmission zu begeben, um die russischen Linien zu stürmen.

Doch am 16. Mai – nach streng geheimen Verhandlungen zwischen Abgesandten Kiews und Moskaus – befiehlt der ukrainische Generalstab den verbliebenen Asowstal-Kämpfern, ihre Waffen niederzulegen.

Überwacht durch das Internationale Rote Kreuz, ergeben sich in den folgenden vier Tagen insgesamt 2.439 Kämpfer:innen den russischen Streitkräften vor der Fabrik. Sie erwartet monatelange Gefangenschaft. Am 20. Mai um 16 Uhr verlässt die letzte Gruppe Azowstal-Verteidiger:innen das Fabrikgelände, darunter auch Jermonow.

Nach mehr als 80 Tage andauernden Kriegshandlungen hat Russland den Kampf um Mariupol gewonnen.

Beerdigungen

Die Russen feiern ihren Sieg in den Trümmern einer Stadt, in der früher das Leben pulsierte. Derweil sind die Einwohner Mariupols am Verhungern; es gibt weder Wasser noch Strom. Humanitäre Organisationen warnen vor einem Cholera-Ausbruch.

Die Stadt gleicht einem offenen Friedhof, mit tausenden flachen Gräbern in den Höfen der Wohnblöcke. Als die Rettungsteams von Tür zu Tür gehen, stellt sich heraus, dass häufig ältere oder nicht mobile Menschen in ihren Wohnungen verhungert sind.

Selbst die Propagandisten im russischen Fernsehen räumen ein, dass die Lage katastrophal ist. „Einwohner:innen der zerstörten Stadt Mariupol kochen Brühe aus Tauben auf offenen Feuern in ihrem Hof“, berichtet der Sender NTV seinen Zuschauer:innen. Aber die Schuld an der Zerstörung wird nicht der russischen Armee gegeben, sondern „ukrainischen Nazis“.

Seit wieder Kommunikation über Handy möglich ist und die Kämpfe vorbei sind, versuchen viele der Geflüchteten Informationen über geliebte Menschen zu bekommen oder etwa, wenn möglich, eine würdige Beerdigung für die Toten zu organisieren.

Hölzerne Schilder mit Nummern statt Grabsteinen mit Namen

Eine Frau zahlt tschetschenischen Soldaten 100 US-Dollar, damit sie die Leiche ihres Sohnes aus Trümmern bergen, unter denen er einen Monat lang gelegen hat. Sie zahlt weitere 100 US-Dollar, um sicherzustellen, dass er sein eigenes Grab auf dem Starokrymske-Friedhof eine kurze Autofahrt außerhalb der Stadt erhält. Der Friedhof wird zu einem der wichtigsten Orte, an dem die Opfer der Belagerung begraben werden.

Auf dem riesigen Friedhof, von dem aus man über die City-Skyline und das glitzernde Asowsche Meer blickt, gibt es Bereiche mit verschnörkelten Denkmälern, Kreuzen und Grabsteinen aus vergangenen Zeiten, die sich bis in die Ferne erstrecken. Im Juni beginnt das Graben am Ende des Friedhofs, wobei zahlreiche neue Gräben jeweils rund 25 Särgen beherbergen. Auf manchen Gräbern stehen Namen und Geburtsdaten; meistens aber stecken hölzerne, mit Nummern markierte Schilder in der Erde. Im Dezember hat die Zahl der Notgräber bereits fast 4.000 erreicht, für die Friedhofsmitarbeiter bedeutete das über mehrere Monate grausige Arbeit.

„Ich weiß nicht genau, wie viele ich begraben habe. Aber es waren viele. Sehr viele“, erzählt der ruhige Friedhofsmitarbeiter Oleksandr, die Arme auf ein Fensterbrett des Verwaltungsgebäudes des Friedhofs gestützt. Oleksandr arbeitet seit 13 Jahren als Totengräber, aber nichts hat ihn auf die vergangenen Monate vorbereitet, in denen verbrannte Leichen und verstümmelte Gliedmaßen ein täglicher Anblick waren.

„Manchmal bekamen wir Kisten, in denen die Körperteile ganzer Familien zusammen geworfen lagen – Eltern und Kinder, alle in einer“, schüttelt er langsam den Kopf und zieht an einer Zigarette. Am Himmel kreist ein Schwarm Raben und erfüllt den stillen, gespenstischen Kirchhof mit lautem, krächzendem Geschrei. „Man sieht es mit eigenen Augen“, sinniert Oleksandr, „aber man weiß nicht, was man denken oder wie man das verarbeiten soll.“

Wiederaufbau

Der Kreml macht St. Petersburg und die fernöstliche Stadt Chabarowsk zu „Patenstädten“, die den Wiederaufbau von Mariupol begleiten sollen. Zahlreiche Beamte werden geschickt, um den Wiederaufbau zu leiten.

Im Oktober veröffentlicht das russische Magazin „Der Insider“ ein glänzendes 32-seitiges, vom russischen Bauministerium beauftragtes Dokument. Es ist ein Plan zum Wiederaufbau Mariupols, komplett mit bunten Folien, die im Detail Baubestimmungen, öffentliche Verkehrslinien und Fahrradwege zeigen.

Russische Firmen rekrutieren tausende zentralasiatische Arbeitsmigrant:innen, um die Stadt wieder aufzubauen. Mitte Dezember kommt der 24-jährige Schreiner Abdulloh aus Tadschikistan nach einer langen Busreise aus Moskau in Mariupol an. Zuvor hat er auf Baustellen in Moskau gearbeitet, zusammen mit anderen Arbeitern aus Tadschikistan und Kirgisistan.

Die Männer leben in einem halb zerstörten Studentenwohnheim und renovieren in langen Schichten verschiedene Gebäude. Allein auf Abdullohs Baustelle arbeiten 300 Männer aus Tadschikistan.

„Mariupol war eine schöne Stadt.“

Es überrascht ihn zu hören, dass seine Anwesenheit in Mariupol für die ukrainischen Behörden eine Grenzübertretung darstellt. „Uns wurde gesagt, dass diese Stadt zu Russland gehört, mehr nicht“, sagt er. Mehr Sorge bereitet ihm, dass der großzügige Lohn, der ihm versprochen wurde, nur zum Teil ausbezahlt wurde.

In den russischen Nachrichten wird von glücklichen Mieter:innen berichtet, die Schlüssel für die Wohnungen in neu errichteten Blöcken erhalten haben. Doch trotz der intensiven Wiederaufbaubemühungen wird es noch sehr lange dauern, bis in Mariupol so etwas wie Normalität einkehrt.

Die Bildsprache ist eindeutig: Mariupol ist jetzt russisch

Foto: Yuri Kadobnov/AFP vIa Getty Ima.

In der Altstadt, einer heruntergekommenen, aber charmanten Ansammlung alter Gebäude, die an einem Abhang hin zum Asowschen Meer liegen, ist jede Mauer von Einschusslöchern und Schrapnellschäden übersät. Dazu kommen größere Krater von Raketen und Granaten. Die Straßen sind menschenleer, nur ab und zu kommt ein Auto vorbei. An einem Nachmittag im Dezember zeigt sich ein seltener Anblick in der gespenstischen Stille: Eine ältere Frau trägt eine Einkaufstüte und einen Krug Wasser. Hinter ihr folgen drei spielerisch ergebene Hunde.

Während der Belagerung teilte sich die 75-jährige Angela den Keller ihres Wohnblocks mit 34 Nachbar:innen. Jetzt sind sie alle weg. Nur sie ist geblieben und hat es sich zur Aufgabe gemacht, für die zahlreichen streunenden Hunde und Katzen zu sorgen, die zurückgelassen wurden. Ihre Wohnung im obersten Stockwerk ist feucht, ohne Fensterscheiben und eiskalt. Sie hat die meisten Möbel mit Plastik und Planen abgedeckt und kämpft einen aussichtslosen Kampf gegen Schimmel und Fäule, weil es ständig durchs Dach tropft.

An den Küchenwänden sind noch immer die Spuren zu sehen, die ein Scharfschütze auf einem gegnerischen Dach hinterlassen hat, als er sie für einen Soldaten hielt und durchs Fenster mit Kugeln beschoss, während sie in der Küche stand. Wie durch ein Wunder überlebte sie mit nichts Schlimmerem als einer Schürfwunde an der Ferse.

Da die Wohnung nicht bewohnbar ist, lebt sie weiter in dem betonierten Keller. Sie hat sich alle Mühe gegeben, ihn gemütlich zu machen: Auf dem improvisierten Bett liegt eine Decke mit Leopardendruck und über der Eingangstür hängt eine blinkende Weihnachtslichterkette. Das Thermometer neben dem Bett zeigt vier Grad Celsius.

„Es war eine schöne Stadt, die wirtschaftlich gut dastand“, erinnert sie sich an die Vergangenheit des Ortes, an dem sie den Großteil ihrer mehr als sieben Jahrzehnte zu Hause war. „Vielleicht kehrt die Stadt eines Tages zu ihrer früheren Herrlichkeit zurück. Aber dann bin ich vielleicht nicht mehr am Leben, um es zu sehen.“

Russifizierung von Mariupol

Mit dem Wiederaufbau kommt die Russifizierung. Symbole der ukrainischen Regierungszeit werden schnell unsichtbar gemacht. Das beginnt damit, dass das große Schild, das Besucher:innen von Mariupol begrüßt, in den Farben der russischen Flagge rot, weiß und blau neu bemalt wurde.

Straßen und Plätze erhalten ihre sowjetischen Namen zurück. Überall hängen große Plakatwände und Plakate mit dem Symbol „Z“, die die russischen Besatzer als Befreier darstellen. Wer noch einen funktionierenden Fernseher hat, bekommt nur noch Programm auf Russisch. Auch der Internetverkehr wird über russische Server geleitet und der Zugang zu vielen ukrainischen Websites gesperrt.

Die Idee ist, das Vorgehen in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny zu wiederholen. Putins Truppen hatten sie ganz zu Anfang seiner Regierungszeit in Trümmer gebombt. Danach wurde die Stadt mithilfe hoher Subventionen aus Moskau als glitzernde Metropole wiederaufgebaut. Ihre Hauptallee wurde Putin zu Ehren umbenannt und Erinnerungen an die lange Geschichte des tschetschenischen Widerstandes wurden unterdrückt.

Auch in Mariupol sollen die Schrecken – der jüngsten ebenso wie der entfernteren Vergangenheit – vergessen werden. Die russischen Behörden lassen in Mariupol das Denkmal für den Holodomor zerstören, die vom stalinistischen Regime in den 1930er Jahren herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine. In einem anderen Teil der Stadt errichten sie ein Denkmal für Alexander Newski, einen Prinzen aus dem 13. Jahrhundert. Der Gouverneur von St. Petersburg, der das Denkmal in Mariupol eröffnet, behauptet, Newski habe das mittelalterliche Gebiet Rus gegen Feinde verteidigt, „die aus denselben Ländern kamen, gegen die Russland heute kämpft“.

Die Lehrer:innen in der Stadt werden gezwungen zu unterschreiben, dass sie bereit sind, nach dem russischen Schullehrplan zu unterrichten. Er beinhaltet eine vom Kreml abgesegnete Geschichtsversion, die Zweifel an der Souveränität der Ukraine und ihrer Geschichte als unabhängige Nation seit 1991 anmeldet. Einige Lehrer:innen werden zur Umschulung an Sommerschulen in Rostow oder Moskau geschickt. Die ukrainische Bildung „muss korrigiert werden“, sagt der russische Bildungsminister Sergej Krawzow.

Überall in der Stadt eröffnen Ämter, in denen die Leute Pässe erhalten können, die sie über Nacht von ukrainischen zu russischen Staatsbürger:innen macht, zumindest in den Augen des Kreml. Tausende stehen dort Schlange; schließlich ist ein russischer Pass erforderlich, um eine Rente zu erhalten oder eine Firma anzumelden.

Am 4. November, dem russischen Tag der nationalen Einheit, beschreibt Putin Mariupol als „alte russische Stadt“. Er verweist auf die „bekannte“ Tatsache, dass der russische Zar Peter, der Große, hier Anfang des 18. Jahrhunderts seine erste Seeflotte gegründet habe. Die Behauptung ist frei erfunden. „Putins Geschichtsverständnis ist völlig lächerlich“, kommentiert Geschichtsprofessor Vadim Korobka von der Staatsuniversität Mariupol mit einem leicht bitteren Lachen.

Lokale Unterstützung für Russland

Es gab immer schon einen prorussischen Teil der Bevölkerung in Mariupol, der allerdings 2014 schrumpfte, als Investitionen aus Kiew das Leben für viele in der Stadt verbesserten. Aber manche Leute hier sind weiter offen für russische Botschaften und machen die Ukraine für die Monate des Elends verantwortlich.

Der Historiker Korobka erinnert sich daran, wie er während der Belagerung im Keller seines Wohnblocks Schutz suchte und hörte, wie einige Nachbarn die ukrainischen Verteidiger von Mariupol als „Nazis“ beschimpften und darauf bestanden, dass die russische Armee niemals Wohngebiete bombardieren würde, obwohl sie es in genau diesem Moment taten.

Jetzt, da die Russen die Kontrolle haben, setzen sie lokale Unterstützer und Opportunisten ein, um dieses Narrativ zu verbreiten. Einer von ihnen ist Andrij Kior. Der 52-jährige frühere Sprecher des Stadtrats von Mariupol gibt die neue prorussische Zeitung „Stimme von Mariupol“ heraus. Vor der Invasion sprach Kior in einem Interview in seiner Wohnung von seiner Lieber für die Schönheit der Natur in der Ukraine und beschrieb Russland als den „Hauptgegner“ des Landes.

Die Veränderung der Machtverhältnisse in der Stadt führte zu einem bemerkenswerten Umschwung in seinen Ansichten. „Die Leute sehen die riesigen Möglichkeiten, die Russland ihnen bietet“, behauptet er ein Jahr später in einem Telefoninterview mit dem Eifer eines Bekehrten. „Die Stadt wird in einem unglaublichen Tempo wiederaufgebaut. Alles dank Russland.“

Die 24-jährige Studentin Daria, die Mariupol im Sommer verließ, kehrt im Januar zurück, um sich um Familienmitglieder zu kümmern und in der Nähe des Grabes ihres verstorbenen Freundes zu sein. Erstaunt bemerkt sie, dass viele Menschen voller Lob für Moskau sind. „Sie sind dankbar für die Hilfe, die sie bekommen. Dabei vergessen oder ignorieren sie, dass es Russland war, das uns das alles weggenommen hat. Ich kann es nicht fassen“, sagt sie traurig.

Überall in Mariupol hängen jetzt russische Propagandaplakate

Schnell erkennt Daria, dass sie nicht genug emotionale Kraft für solche Gespräche hat. Sie lernt, in wenigen Momenten die politischen Ansichten ihres Gegenübers zu erkennen. „Wie sie sprechen, dich angucken; kleine Dinge verraten es. Man lernt, seine eigenen Ansichten nur Leuten gegenüber zu äußern, denen man traut. Ansonsten behält man seine Gedanken bei sich.“

Während sie durch die Ruine läuft, sieht Daria überall russische Propagandaplakate, die mit Farbe hingeschmierten Z-Symbole und die Flaggen der sogenannten Volksrepublik Donezk.

Ab und an trifft sie aber auch ein anderes Zeichen. „Ruhm der ukrainischen Armee“, mit Farbe an eine Wand geworfen oder ein Poster, das verkündet: „Mariupol ist die Ukraine“. Manchmal haben Leute auch einfach den Buchstaben ï gemalt, den es im Ukrainischen gibt, aber nicht im Russischen. Es ist eine Steno-Form des Widerstandes und ein Hoffnungsschimmer für diejenigen in der Stadt, die sich nach Kiews Rückkehr sehnen. „Ich laufe daran vorbei und lächle darüber“, erzählt sie. „Viel mehr können wir nicht tun.“

Mariupol im Exil

Geschätzt 350.000 Menschen haben Mariupol verlassen. Manche versuchen, in Russland ein neues Leben zu beginnen, andere an einem anderen Ort in der Ukraine. Viele sind zu Flüchtlingen in anderen Ländern geworden und versuchen mit aller Kraft, die Erinnerungen an die erlebten Schrecken und Verluste hinter sich zu lassen.

Mit dem Verweis auf die erstaunliche Rückeroberung der Seehafenstadt Cherson im November hoffen die ukrainischen Behörden, dass es ähnlich möglich ist, auch Mariupol zu befreien.

Unterdessen arbeitet die ukrainische Stadtverwaltung im Exil von Kiew aus unter der Leitung von Bürgermeister Bojtschenko. In einem Interview wird er sichtlich emotional, als er nach dem Ärger gefragt wird, den seine Entscheidung, die Stadt kurz nach der Invasion zu verlassen, bei vielen auslöste. Nur aus der Sicherheit in der Entfernung, verteidigt er sich, hätte er die Bemühungen koordinieren können, Evakuierungen zu organisieren.

Auch die Staatliche Universität Mariupol hat ihren Sitz vorübergehend nach Kiew verlegt. Im September soll es wieder Lehrveranstaltungen geben, die nicht online sind. Laut Direktor Mykola Trofymenko blieben nur zehn Prozent seines Lehrkörpers in Mariupol zurück und ließen sich als Lehrende für die von Russland aufgebaute zweite Version der Universität anwerben. „Sie werden später Fragen beantworten müssen“, sagt er düster.

Ukrainische Polizeieinheiten überwachen Nachrichten und Beiträge in den sozialen Medien aus Mariupol und erstellen eine Liste derjenigen, die mit den Russen zusammenarbeiten. Sie hoffen, dass die ukrainischen Behörden bald nach Mariupol zurückkehren und die betreffenden Personen als Verräter zur Verantwortung ziehen werden.

Aus dem Asow-Stahlwerk evakuierte Zivilist:innen

Foto: Chris McGrath/Getty Images

Doch in Mariupol ist das wie in anderen von Russland besetzten Gebieten ein schwieriges und emotionales Thema, zu dem es viele Meinungsverschiedenheiten gibt. Wo verläuft die Linie zwischen Kooperation, um zu überleben, und Kollaboration? Mit jedem weiteren Monat unter russischer Regierung wird ein möglicher Prozess in der Zukunft schwieriger.

Viele von denen, die Mariupol verlassen haben, planen keine Rückkehr, bevor die Ukraine die Stadt wieder übernimmt; andere haben ihr Zuhause sowie ihre Lebensgrundlage verloren und halten eine Rückkehr nicht für sinnvoll – egal was kommt.

In Warschau arbeitet die in Mariupol geborene Psychologin Katerina Shukh mit kürzlich aus Mariupol angekommenen. Sie selbst konnte die Stadt bereits kurz nach Kriegsbeginn verlassen. In Gruppentherapie-Sitzungen malen die Frauen ihre Gefühle oder stellen gemeinsam verschiedene Dinge her. Sie machen Atemübungen. Manchmal weinen alle. Es sei ein gutes Zeichen, wenn das passiert, erklärt Shukh, weil es bedeute, dass sich die Teilnehmerinnen sicher genug fühlen, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Psychische Lähmung und Realitätsverweigerung

Sie macht den Frauen klar, dass das, was sie durchgemacht haben, ein Teil von ihnen bleiben und sie wahrscheinlich für immer verändern wird, aber dass sie daran arbeiten können, welche Auswirkung es auf sie hat. „Die Leute brauchen Zeit, um sich anzupassen“, erklärt sie. „Es ist ein zweifacher Prozess: sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen und zu überlegen, wie man weiterleben kann.“

Besonders bei älteren Geflüchteten kann die Tatsache, dass sie nie mehr werden zurückkehren können, einen Zustand psychischer Lähmung und Realitätsverweigerung hervorrufen. Shukhs persönliche Erfahrung verleiht ihren Ratschlägen mehr Glaubwürdigkeit. „Ich bin in dieser Stadt geboren und habe mein ganzes Leben dort gelebt. Ich habe alles verloren. Daher verstehe ich die Gefühle dieser Frauen von innen heraus“, erklärt sie.

Shukh rät ihren Klient:innen, keine Telegram-Kanäle über Mariupol zu abonnieren; also nicht durch Filmaufnahmen aus der besetzten Stadt zu scrollen. Das bringt Gefühle von Wut und Hilflosigkeit, die beide nicht hilfreich sind. Sie räumt ein, dass sie selbst nicht immer in der Lage ist, ihren eigenen Rat zu befolgen. Der Sog der Heimat ist zu stark. Sie fühlt sich von den Bildern und Videos angezogen.

Obwohl die Videos auf den Telegram-Kanälen in Mariupol gedreht sind, wirken sie dennoch nicht wie der Ort, der einmal Shukhs Zuhause war. Selbst wenn die Ukraine Mariupol in der nahen Zukunft zurückerobern sollte, werden der Schmerz und das Trauma des vergangenen Jahres unauslöschliche Spuren in der Stadt und bei ihren Menschen hinterlassen.

„Man erkennt, dass der Ort, an dem man sein ganzes Leben verbracht hat, nie wieder da sein wird“, erklärt sie. „Es gibt ihn nicht mehr.“

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