Ukraine fordert 1 Milliarde Dollar „Blutgeld“ von Shell

Der Ausstieg des britischen Öl- und Gaskonzerns Shell aus seinen russischen Geschäftsbeteiligungen ist um eine überraschende Verwicklung reicher geworden. Shells Beteiligung am Sachalin-Gasprojekt in Sibirien, einem Gemeinschaftsunternehmen mit Gazprom und Japanern, war quasi enteignet worden.

Philip Plickert

Wirtschaftskorrespondent mit Sitz in London.

Der Londoner Konzern verbuchte 5 Milliarden Dollar Abschreibungen wegen des erzwungenen Russland-Ausstiegs. Nun könnten die Briten aber doch noch unverhofft eine Milliardenzahlung aus dem Altgeschäft erhalten. Wie russische Medien berichteten, will das Unternehmen Novatek Shells ehemaligen Sachalin-Anteil kaufen und könnte dafür mehr als 1,1 Milliarden Dollar überweisen.

„Das wäre schlicht und einfach Blutgeld“

Das erzürnt die Ukraine. Ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte in einem Brief an Shell-Vorstandschef Wael Sawan, das „Blutgeld“ an die Ukraine und Opfer des Krieges zu spenden. „Falls dieser Verkauf abgeschlossen wird, würde es den Transfer von mehr als einer Milliarde Dollar russischen Geldes auf Shells Konten bedeuten. Das wäre schlicht und einfach Blutgeld“, schrieb Selenskyjs Wirtschaftsberater Oleg Ustenko in dem von Anfang dieser Woche datierten Brief an Sawan, über den zuerst die Website „Politico“ berichtete.

Er sehe, dass Shell keine Wahl habe, ob es das Geschäft abschließe oder nicht, schrieb Ustenko. Aber das Unternehmen sollte jegliche Dividenden oder Verkaufserlöse aus ehemaligen Geschäften in Russland für die Ukraine einsetzen.

Shells Beteiligung am Gasprojekt wurde quasi enteignet

Shell will offiziell zu der ganzen Affäre keinen Kommentar abgeben. Den Erhalt des Briefes bestätigt das Unternehmen. Aus Unternehmenskreisen wird darauf verwiesen, dass die Angelegenheit komplizierter sei als oft dargestellt. Kurz nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine hatte Shell Ende Februar 2022 – auch auf starken Druck der Londoner Regierung – den vollständigen Rückzug aus sämtlichen Beteiligungen in Russland verkündet.

Dazu zählten mehrere Gemeinschaftsunternehmen zur Öl- und Gasförderung wie Salym und Gydan (mit Gazprom), Tankstellen sowie das bedeutende Joint Venture Sachalin II auf der sibirischen Insel Sachalin nördlich von Japan. Dieses umfasst eines der größten Flüssiggasprojekte der Welt. Beteiligt sind auch die japanischen Handelshäuser Mitsui und Mitsubishi.

Insgesamt verbuchte Shell 5 Milliarden Dollar Wertberichtigungen für den Abschied von russischen Beteiligungen und Vermögenswerten. Allein für den 27,5-prozentigen Anteil am Sachalin-II-Projekt schrieb Shell 1,6 Milliarden Dollar in seiner Bilanz ab.

Im Juni 2022 ordnete Russlands Präsident Wladimir Putin per Dekret eine faktische Nationalisierung von Sachalin II an. Die Anteile wurden in eine neue Gesellschaft überführt, an der die Alteigentümer sich neu beteiligen könnten. Shell machte dabei nicht mit und zog sich zurück. Beobachter sprachen damals von einer Quasienteignung. Mitsui und Mitsubishi indes beteiligten sich erneut, unter dem Druck der japanischen Regierung, die verhindern will, dass die Sachalin-Beteiligung in chinesische Hände gerät. Der juristische Status von Shells Anteil war unklar.

Verkauf an Novatek ohne Shells Wissen und Zutun

Wie russische Finanzmedien meldeten, hat der Kreml den Verkauf der 27,5 Prozent an das russische Energieunternehmen Novatek genehmigt. Dieses soll dafür 94,8 Milliarden Rubel zahlen, was zum aktuellen Umtauschkurs etwa 1,16 Milliarden Dollar entspräche. Shell betont, dass es an den Verkaufsgesprächen in keiner Weise beteiligt war und keine direkten Informationen über das Geschäft besitze.

Aus Unternehmenskreisen heißt es, man wisse nicht, wann und wie Novatek das Geld zu überweisen gedenke, ob in Rubel oder in Dollar, und auf welches Bankkonto. Unklar ist auch, ob die Bank Sanktionen unterliegt und ob es überhaupt möglich sei, das Geld aus Russland herauszuschaffen. Die ganze Angelegenheit sei hochgradig unsicher. Der Preis von umgerechnet 1,1 Milliarden Dollar erscheint Branchenbeobachtern zudem ziemlich niedrig angesichts des Wertes des riesigen Gasprojekts, das für etwa 4 Prozent der globalen Flüssiggasproduktion steht.

Schon einmal zahlte Shell an die Ukraine

Aktuell sieht es nicht danach aus, dass Shell der Ukraine eine Milliardenzahlung versprechen wird. Kurz nach Beginn der Invasion war der Energieriese in die Kritik geraten, weil er auf dem Spotmarkt russisches Rohöl günstig gekauft hatte. Shell entschuldigte sich und überwies 60 Millionen Dollar an ein ukrainisches Hilfsprogramm und das UN-Welternährungsprogramm. Bis An­fang 2023 hat Shell an die Ukraine insgesamt 74 Millionen Dollar humanitäre Spenden gezahlt.

Der erzwungene Abschied aus Russland ist auch für Shells britischen Konkurrenten BP sehr kostspielig geworden. BP hat im Frühjahrsquartal 2022 nach Kriegsbeginn sogar mehr als 20 Milliarden Dollar Abschreibungen verbucht. Gleichzeitig haben die Energiekonzerne dank der hohen Ölpreise vergangenes Jahr Rekordgewinne eingefahren.

Der französische Wettbewerber Totalenergies hat sich in den vergangenen Monaten zwar weitgehend aus Russland verabschiedet, eine rund 20-Prozent-Beteiligung an Novatek und dessen Flüssiggasprojekt Yamal LNG in Sibirien sind aber nach wie vor verblieben, wobei Total die Novatek-Beteiligung abgeschrieben genommen hat. Man erfülle aber die langfristigen Verträge, solange die Politik dies nicht verbietet, sagte Konzernchef Patrick Pouyanné bei der jüngsten Bilanzpressekonferenz mit Blick auf die Erdgasförderung in Yamal.

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