2015 scheiterte der jüngste Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der militanten Untergrundorganisation und verbotenen Arbeiterpartei PKK. Neun Jahre nachdem der jahrzehntealte Konflikt erneut entflammt war, überrascht die türkische Regierung nun mit einer Kehrtwende. Sogar von einer möglichen Entlassung des PKK-Führers Abdullah Öcalan und einem Aufruf Öcalans zur Auflösung der PKK ist die Rede.
Ein Frieden scheint in greifbarer Nähe – doch hält sich die aktuelle Führung der PKK an die Worte des Gründers Öcalan? Welche Taktik verfolgt die Erdoğan-Regierung? Und wie ist die Geschichte des gewaltsamen Konflikts?
Was ist die PKK, und wer ist Abdullah Öcalan?
Der Name der PKK lautet übersetzt Arbeiterpartei Kurdistans. Die PKK ist eine militante Organisation, die primär aus dem Untergrund und in Form eines Guerillakampfes agiert. Sie entstand Ende der Siebzigerjahre und hat ihre Wurzeln in den kurdisch geprägten Gebieten im Südosten der Türkei. Ihre Führung sitzt in den Kandil-Bergen im Irak. Wichtigstes Ziel der PKK ist der Kampf um kurdische Autonomie. Früher strebte sie dieses Ziel in Form eines eigenen kurdischen Staates an, heute mit mehr Selbstbestimmung innerhalb des türkischen Staates.
In der Türkei ist die PKK verboten. Auch in den USA und der Europäischen Union ist sie als Terrororganisation eingestuft. Zur Erreichung ihrer Ziele verüben die PKK und ihr nahestehende Organisationen seit Jahrzehnten Anschläge; zahlreiche Menschen wurden getötet, darunter auch viele Zivilisten.
Schon vor Gründung der PKK war Abdullah Öcalan als Studierendenführer eine prominente Figur in der kurdischen Bewegung. Als die Arbeiterpartei 1978 gegründet wurde, wurde Öcalan ihr erster Vorsitzender und ist seitdem Anführer der PKK. Er prägte deren sozialistisch-revolutionäre Ausrichtung und erklärte den Kampf der kurdischen Bewegung zu einem antikolonialen und nationalen Befreiungskampf. Kurz nach Gründung der PKK musste Öcalan ins Ausland fliehen. Dort verfasste er zahlreiche Schriften, die für die Programmatik der PKK entscheidend waren und einen Personenkult um ihn auslösten.
1999 griff der türkische Geheimdienst Öcalan in der kenianischen Hauptstadt Nairobi auf und brachte ihn in die Türkei. Dort wurde er zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde später in lebenslange Haft umgewandelt. Seit seiner Inhaftierung wird Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer südlich von Istanbul festgehalten, viele Jahre verbrachte er in Isolation.
Wie ist die Geschichte des türkisch-kurdischen Konflikts?
ZEIT-Kolumnist Can Dündar bezeichnet den Kurdenkonflikt als das „größte Problem in der Geschichte der Türkischen Republik“. Der Konflikt hat eine lange Geschichte: Mustafa Kemal Atatürk, Vater der modernen Türkei, setzte nach der Staatsgründung auf eine ethnische Homogenisierung des Landes. Von den Kurdinnen und Kurden wurde eine Assimilierung an die Mehrheitsgesellschaft verlangt. Gegen die anhaltende Unterdrückung der kurdischen Minderheit gab es jedoch auch Widerstand – wie in Syrien, im Iran und im Irak, wo ebenfalls Kurden leben.
In den Siebzigerjahren fanden in der Türkei bürgerkriegsähnliche Kämpfe zwischen linken und rechten Gruppierungen statt, 1980 putschte sich das Militär an die Macht. Wenige Jahre später nahm die noch junge PKK ihren Kampf wieder auf. In dem anschließenden jahrzehntelangen Konflikt zwischen der verbotenen Untergrundorganisation und dem türkischen Staat wurden Zehntausende Menschen getötet.
Der heutige Staats- und damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan präsentierte sich in den Zweitausenderjahren – auch im Zuge einer Annäherung zwischen EU und Türkei – als möglicher Schlichter des festgefahrenen Konflikts. Erdoğan sorgte für politische Reformen und mehr Freiheiten für Kurden, in den frühen Zehnerjahren gab es direkte Verhandlungen sowie einen Waffenstillstand.
Dies änderte sich im Sommer 2015: Bei der Wahl im Juni kam die prokurdische Partei HDP über die Zehn-Prozent-Hürde und zog in das Parlament ein, die regierende AKP verlor ihre Mehrheit. Infolge eines Anschlags in der kurdischen Stadt Suruç im Juli eskalierte die Gewalt. Vonseiten der PKK hieß es, der türkische Staat habe den Waffenstillstand praktisch beendet. Die Organisation verübte ihrerseits Anschläge, der Konflikt zwischen PKK und türkischen Sicherheitskräften entflammte erneut.
Wie ist der aktuelle Stand der Gespräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK?
Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen türkischer Regierung und PKK 2015 und dem anschließenden gewaltsamen Konflikt im Südosten des Landes war ein Friedensprozess in weite Ferne gerückt. Ausgerechnet Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP, brachte im Herbst 2024 neue Bewegung in den Prozess. Er sprach offen über eine mögliche Freilassung Öcalans, knüpfte diese jedoch an die Bedingung, dass die PKK ihre Waffen niederlegt. Bahçelis MHP ist Koalitionspartner der AKP von Staatspräsident Erdoğan.
Die ultranationalistische MHP habe verstanden, „dass eine Waffenruhe in der sich verändernden regionalen Umgebung notwendig ist“, sagt Hürcan Aslı Aksoy im Interview mit ZEIT ONLINE. Sie ist Leiterin des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Den überraschenden Vorstoß Bahçelis erklärt Aksoy auch mit dem Resultat der letzten Kommunalwahlen: Bei diesen sei die türkische Regierung durch die Oppositionsparteien „stark herausgefordert“ worden. Mit einem neuen Friedensprozess beeinflusse die Regierung nun den politischen Handlungsraum der Opposition, die eine mögliche Lösung des Kurdenkonflikts bislang für sich beanspruchte.
Präsident Erdoğan griff den Vorschlag seines rechtsnationalen Koalitionspartners Bahçeli auf und wiederholte einen Satz, den dieser zuvor gesagt hatte: „Ein Türke, der die Kurden nicht liebt, ist kein Türke, und ein Kurde, der die Türken nicht liebt, ist kein Kurde“ – eine durchaus überraschende Äußerung aus türkischen Regierungskreisen.
Im Anschluss empfing PKK-Führer Öcalan seltenen Besuch: Abgeordnete der prokurdischen DEM-Partei (ehemals HDP) trafen ihn auf der Gefängnisinsel İmralı. Die DEM kündigte daraufhin an, der 75-Jährige werde zeitnah einen „historischen Aufruf“ zur Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts machen. Kurdischen Politikern zufolge wird mit Öcalans Aufruf spätestens am kurdischen Neujahrsfest Newroz am 20. März gerechnet.
Eine DEM-Delegation reiste zudem kürzlich in den Irak, um Massud Barsani, den Präsidenten der dortigen autonomen Kurdenregion, zu treffen. Dieser signalisierte Bereitschaft, den Friedensprozess in der Türkei zu unterstützen.
Weshalb werden derzeit viele Kurdinnen und Kurden in der Türkei festgenommen?
Parallel zu den aktuell laufenden Verhandlungen gehen Polizei und Justiz in der Türkei wieder verstärkt gegen mutmaßliche Mitglieder, Unterstützer oder Sympathisanten der PKK und anderer verbotener Organisationen vor. Zuletzt wurden mehrere kurdische Bürgermeister aufgrund von Terrorvorwürfen abgesetzt und zahlreiche Menschen bei anschließenden Demonstrationen festgenommen. Zudem kam es auch bei Razzien gegen die PKK zu rund 300 Festnahmen.
Beobachter sprechen von einer Doppelstrategie der türkischen Regierung: Einerseits setzt sie auf Friedensverhandlungen und eine Auflösung der PKK. Gleichzeitig erhöht sie durch Festnahmen, Razzien und Gerichtsverfahren den Druck. Türkeiforscherin Aksoy sagt über die Gleichzeitigkeit von Annäherung und Repression: „Für Erdoğan, Bahçeli und die Regierung geht es um den Machterhalt.“
Mit dem Vorgehen symbolisiert die Regierung zugleich: Sollten die Gespräche scheitern, gibt es andere Wege, um gegen die kurdische Bewegung vorzugehen.
Wie hat sich die Lage der Kurden durch den Machtwechsel in Syrien verändert?
Laut Politikwissenschaftlerin Aksoy haben die Machtverhältnisse in Syrien unmittelbaren Einfluss auf den türkisch-kurdischen Konflikt. Sollte der Status der Kurden in Syrien geklärt werden, beispielsweise durch ihre Anerkennung in einer neuen syrischen Verfassung, so werde dies „direkte Konsequenzen für die kurdische Bewegung in der Türkei haben“, sagt die Wissenschaftlerin vom Centrum für angewandte Türkeistudien.
Unter dem langjährigen Machthaber Baschar al-Assad hatten kurdische Kräfte im Nordosten Syriens relative Autonomie erreicht – auf Grundlage einer prekären, aber aus ihrer Sicht notwendigen Zusammenarbeit mit dem syrischen Diktator. Nach dessen Sturz ist diese Autonomie bedroht. Die Türkei, deren Militär seit 2016 auch selbst in Nordostsyrien aktiv ist, sucht die Nähe zur neuen syrischen Regierung um die islamistische HTS-Miliz. Zugleich unterstützt die Türkei den Kampf der sogenannten Syrischen Nationalen Armee gegen kurdische Milizen wie die YPG.
Aus Sicht der Erdoğan-Regierung sind die YPG und ihr politischer Arm in Syrien Ableger der terroristischen PKK. Kurdische Selbstverwaltung in Syrien würde die türkische Regierung wohl, wenn überhaupt, nur unter einer Führung akzeptieren, die sich klar von der PKK und deren bewaffnetem Kampf abgrenzt.
Könnte ein öffentlicher Aufruf Öcalans den türkisch-kurdischen Konflikt beenden?
Öcalan hat nach wie vor einen großen Einfluss auf die PKK und die kurdische Bewegung. Er wird, trotz zahlreicher Verbrechen, die direkt oder indirekt mit ihm in Verbindung stehen, von vielen Kurdinnen und Kurden nahezu verehrt. Für die Türkeiexpertin Aksoy ist klar, dass Öcalan weiterhin eine „symbolische Kraft für die kurdische Bewegung“ habe. Doch diese Kraft ist nicht ungebrochen.
Schon in vergangenen Verhandlungen setzte sich die PKK-Führung in den irakischen Kandil-Bergen über die Forderungen des Parteigründers hinweg. Im Gespräch mit ZEIT ONLINE sagt die Politikwissenschaftlerin Aksoy, sie sei sich seit Beginn der aktuellen Initiative „nicht sicher, ob die PKK Öcalans Anweisungen folgen wird“. Nach einem Vierteljahrhundert in Haft sei „unklar, wie groß sein Einfluss auf die Organisation ist“.
Nach anfänglich kritischen Tönen äußerte sich die PKK-Führung zuletzt versöhnlicher. Demnach werde ein neuer Prozess in der Region eingeleitet, und die türkische Gesellschaft müsse keine Angst haben, dass die Kurden die Türkei spalten. Deshalb könne man „vorsichtig sagen, dass die PKK die Initiative ernst nimmt“, sagt Aksoy über die aktuellen Gespräche. Allerdings geht sie von „harten Verhandlungen“ aus über die Perspektiven, die die Türkei den Kurden nach einer möglichen Waffenniederlegung bietet. Sollte die PKK am Ende tatsächlich einlenken, könnte dies Aksoy zufolge „zu einer Atmosphäre der Erleichterung in der Türkei führen, die sich sowohl auf die Regierung als auch auf die Gesellschaft auswirkt“.
Noch ist unklar, ob die jüngste Initiative für einen nachhaltigen Frieden zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen PKK erfolgreich sein wird. Doch schon jetzt ist sicher: So nah war eine Lösung des „größten Problems in der Geschichte der Türkischen Republik“ seit langer Zeit nicht mehr.
Mit Material der Nachrichtenagenturen AFP, AP, dpa und Reuters