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Am 2. September dieses Jahres erklärte ein hoher Beamter des Kreml, dass die Türkei einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Brics-Gruppe gestellt habe. Zur Brics-Gruppe gehören Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Für viele war das ein Schock, denn die Türkei ist Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat mit engen wirtschaftlichen Beziehungen zur Europäischen Union. Die türkische Regierung hat diese Erklärung weder bestätigt noch dementiert, sondern lediglich bekannt gegeben, dass „ein Prozess im Gange“ sei, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Womöglich werden beim Brics-Gipfel diese Woche mehr Details bekannt werden.
Doch so oder so stellt sich die Frage: Wie kann es sein, dass ein Land mit einer relativ engen Bindung an die westliche Sicherheits- und Wirtschaftsarchitektur einen Beitritt zu den Brics-Staaten in Erwägung zieht – wenn schon die Aussicht auf einen Beitritt allein zum Gegenstand einer weltweiten Debatte wird?
Die Antwort liegt darin, dass die Welt sich zu einer multipolaren Ordnung verschiebt. In diesem sich entwickelnden System streben die Mittelmächte nach strategischer Autonomie. Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Nachkriegsordnung mit ihren multilateralen Institutionen und Normen schon heute nicht mehr effektiv funktioniert, und dass die USA als hegemonialer Akteur innerhalb der unipolaren Ordnung die Spielregeln nicht mehr im Alleingang festlegen.
Außerdem ist der westliche Block zwar immer noch mächtig und dominant im Weltwirtschaftssystem, aber er ist nicht mehr der Hauptbezugspunkt für den Globalen Süden in den wichtigen Debatten über die Zukunft der internationalen Ordnung.
Die Aufstrebenden nutzen ihre Chancen
Diese Entwicklung hin zur Multipolarität hat eine Debatte über die Rolle der Mittelmächte in der internationalen Ordnung ausgelöst. Als Mittelmächte werden gemeinhin Länder verstanden, deren Macht, Kapazitäten und politischer Einfluss von mittlerer Größe sind. Doch materielle Fähigkeiten allein sind kein hinreichendes Merkmal für eine Position als Mittelmacht. Hinzu kommt eine normative Verhaltenskomponente, die besagt, dass diese Länder zur Stabilität der internationalen Ordnung beitragen sollen, indem sie durch multilaterale Kooperation, die Stärkung globaler Institutionen, die Ausübung von Soft Power und durch Nischendiplomatie eine systemunterstützende Rolle übernehmen. Doch weil die „aufstrebenden“ oder „nicht traditionellen“ Mittelmächte, die zumeist aus dem Globalen Süden stammen, die Chancen zu nutzen versuchen, die sich ihnen bieten, fechten sie eben auch die westlich dominierte Weltordnung an, der sie kritisch gegenüberstehen.
Die Türkei gehört zu den Mittelmächten mit mittelgroßen Kapazitäten. Ihre Außenpolitik weist kooperative Elemente auf, sie ficht aber zunehmend auch die bestehende internationale Ordnung an. Ähnlich wie andere Mittelmächte sieht sie die Multipolarität als Chance, sich durch die Positionierung zwischen den Weltmächten abzusichern, eine autonomere Außenpolitik zu verfolgen und ihren Einfluss in ihrer Region auszudehnen. Die Türkei möchte Mitglied der Nato bleiben und von deren Sicherheitsgarantien profitieren, während sie gleichzeitig engere Beziehungen zur Brics-Gruppe pflegt. Obwohl sie ein Zollunionsabkommen mit der EU hat, möchte sie die Verlagerung der Weltwirtschaft in Regionen jenseits des Westens nutzen und ihren Handel und ihre Investitionen in den Brics-Ländern ausbauen. Dank des steigenden Anteils dieser Länder an der Weltwirtschaft hat sich der türkische Handel mit den Brics-Ländern in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt.
Das Land unterstützt die ukrainischen Kriegsanstrengungen, pflegt aber auch enge Beziehungen zu Russland, auf das es stark angewiesen ist, um seinen wachsenden Energiebedarf zu decken. In jüngster Zeit bemüht sich die Türkei, mehr Investitionen aus China anzuziehen. Das Bemühen um Absicherung wird von einem Drängen auf Veränderungen in der globalen Ordnung begleitet. Die Türkei unterstützt seit Langem die Reform des UN-Sicherheitsrats. Kürzlich hat sie einen offiziellen Antrag gestellt, sich der Völkermordklage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof anzuschließen, was sie in einer Frage von zentraler geopolitischer Bedeutung für ihre Region näher an die Brics-Gruppe heranführt.
Die Außenpolitik der Türkei hat innenpolitische Gründe
Das Streben der Türkei nach strategischer Autonomie und ihre Forderungen nach Veränderungen in der internationalen Ordnung werden häufig mit dem Plädoyer für globale Gerechtigkeit in einer multipolaren Welt begründet. Die Forderungen stehen jedoch auch in engem Zusammenhang mit der türkischen Innenpolitik, genauer gesagt mit dem Bestreben der Regierung, die Macht im eigenen Land zu konsolidieren.
Der Diskurs über die Autonomie vom Westen dient als Schlüsselinstrument, mit dem die Regierung die inländische Opposition diskreditiert und gleichzeitig ihre eigene Unterstützerbasis festigt, insbesondere in Zeiten innenpolitischer Krisen. Seit den Gezi-Protesten 2013 werden die Probleme im Inneren und der Dissens in der Türkei stets und zwangsläufig als Produkt westlicher Einmischung und Manipulation in Zusammenarbeit mit der einheimischen Opposition dargestellt. Auf diese Weise begibt sich die Türkei in eine Opferrolle und mobilisiert öffentliche Unterstützung für die kontroversen, spaltenden und antiwestlichen politischen Entscheidungen der Regierung.
So wird die Außenpolitik aktiv als Instrument genutzt, um die Ausrichtung der türkischen Gesellschaft in antiwestliche Bahnen zu lenken. Das wiederum dient dazu, die Kritik aus dem Westen an der Aushöhlung der Demokratie und der Menschenrechte in der Türkei zurückzuweisen und die Opposition zu diskreditieren, die auf eine demokratischere politische Agenda drängt. Auf diese Weise wird die Fortschreibung der populistischen autoritären Herrschaft gefestigt.
Zum jetzigen Zeitpunkt scheint eine Mitgliedschaft der Türkei in der Brics-Gruppe trotz der oben genannten Faktoren in weiter Ferne zu liegen, weil die Türkei nicht nur in sicherheitspolitischer Hinsicht durch ihre Mitgliedschaft in der Nato eng mit dem Westen verflochten ist, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht: durch ihre Exportmärkte, die Herkunft ausländischer Direktinvestitionen, Technologie und Finanzen sowie durch ihre Beteiligung an globalen Wertschöpfungsketten.
Während die bloße Diskussion über die Erwägung einer Brics-Mitgliedschaft vor allem Russland einen Legitimationsschub gegenüber dem Westen verleiht, ist es höchst zweifelhaft, ob die Brics-Staaten letztlich der Mitgliedschaft eines Nato-Verbündeten zustimmen würden. Doch vielleicht ist das wahre Motiv für diesen Antrag nicht die Mitgliedschaft selbst, sondern der Wunsch der Türkei, weitere politische und wirtschaftliche Vorteile in der Zusammenarbeit mit dem Westen zu erlangen. Ein wichtiger Teil des Puzzles besteht also darin, ob und wie der Westen, insbesondere die EU, auf diese Absichten reagiert.
Übersetzung: Steffen Wagner
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Am 2. September dieses Jahres erklärte ein hoher Beamter des Kreml, dass die Türkei einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Brics-Gruppe gestellt habe. Zur Brics-Gruppe gehören Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Für viele war das ein Schock, denn die Türkei ist Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat mit engen wirtschaftlichen Beziehungen zur Europäischen Union. Die türkische Regierung hat diese Erklärung weder bestätigt noch dementiert, sondern lediglich bekannt gegeben, dass „ein Prozess im Gange“ sei, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Womöglich werden beim Brics-Gipfel diese Woche mehr Details bekannt werden.