Trettmann: „Ich sehe die Verbitterung“

DIE ZEIT: Herr Richter, nach Grauer Beton haben Sie der Nachwendezeit kürzlich einen zweiten Song gewidmet: Nach allem, was war. Wieso ist Ihnen das Thema so ein großes Anliegen?

Stefan Richter: Es war mir nicht mal ein Anliegen, das hat sich einfach ergeben. Mir kam diese Zeile in den Kopf: „Nach allem, was war.“ Und dabei musste ich an den Küchentisch meiner Mutter denken, wie ich da mit ihr saß, in Karl-Marx-Stadt, Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger. Weil diese Zeit prägend war für mich. Wenn ich an das denke, was war, denke ich an diese Jahre.

ZEIT: Grauer Beton bezieht sich auf die Zeit nach dem Mauerfall. Nach allem, was war beginnt etwas früher, mit den Demonstrationen 1989. Warum wollten Sie über das Ende der DDR rappen?

Richter: Ich will die Geschichte des Umbruchs erzählen. Zumal wir gerade ja wieder von Umbrüchen umgeben sind, überall auf der Welt. Der Umbruch im Osten fing jedenfalls nicht erst in den Neunzigern an, sondern natürlich schon viel früher. Ich überlege mir oft, was ich tun kann angesichts der Krisen in der Welt. Und ich finde, die Geschichte zu beleuchten und verständlich zu machen, wie zum Beispiel die Rechten so erstarken konnten: Das ist etwas, was ich tun kann. Ich war ja dabei, ich habe das erlebt.

ZEIT: Und Ihnen ist wichtig, zu betonen, dass es Rassismus und Rechtsextremismus schon vor 1990 im Osten gab?

Richter: Mir ist vor allem wichtig, darüber nachzudenken, woher das alles kommt. Aber ja, manchmal hab ich den Eindruck, dass die Leute das so wahrnehmen: In den Neunzigern kam die Neonazi-Zeit. Klar, es gab westdeutsche Neonazis, die nach dem Mauerfall bewusst in den Osten gekommen sind und Strukturen aufgebaut haben. Aber sie fanden einen Nährboden, Ausländerfeindlichkeit kenne ich schon aus DDR-Zeiten. An einer Stelle rappe ich: „Von ›Sagen dürfen, was man sagen will‹ zu Deutschem Gruß beim An-der-Corner-Chillen.“ Der Rechtsextremismus kam schnell und nicht von ungefähr.

ZEIT: Sie sind im Fritz-Heckert-Gebiet in Karl-Marx-Stadt aufgewachsen, einem Plattenbauviertel, in dem später zeitweise die NSU-Täter lebten. Wie erinnern Sie Ihre Jugend rund um den Mauerfall?

Richter: Ich war in der zehnten Klasse. Mein älterer Bruder war im Westen, er hatte ein paar Jahre zuvor einen Ausreiseantrag gestellt. Meine Mutter, mit der ich allein zusammenwohnte, hatte nach seiner Ausreise plötzlich keine beruflichen Aufstiegschancen mehr, das bekam ich alles mit. Und trotzdem war ich als Kind natürlich überzeugt davon, in der DDR auf der richtigen Seite zu stehen. Dieses Selbstverständnis bekam 1989 Risse.

ZEIT: Wegen der Proteste?

Richter: Ich habe auf der Straße gesehen, wie Polizei und Armee mit der eigenen Bevölkerung umgehen. Auf den Demonstrationen war es gefährlich. Meine Mutter wollte mich davon fernhalten: „Du gehst mir da nicht hin. Du gehst mir heute nicht dahin.“ Ich höre noch, wie sie das damals gesagt hat, am Küchentisch. Ich hab nicht auf sie gehört. Und es hat eine Weile gedauert, aber irgendwann Ende Oktober ist meine Mutter dann auch protestieren gegangen.

ZEIT: In Ihren Liedern rappen Sie über die Neunziger dann als eine Zeit des Niedergangs. Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Neonazis – darüber wird ja in letzter Zeit sehr viel gesprochen. Werden die Wiedervereinigung und die Nachwendezeit gerade vielleicht etwas zu düster erzählt?

Richter: Ich finde auch, man muss da aufpassen. 1989/90 war eine Offenbarung, ein Geschenk. Ich will das betonen: Die Freiheit, die wir bekamen, ist das Allerwichtigste und Größte. Das Reisen allein. Kommt ja auch alles in Nach allem, was war vor.

ZEIT: Sie sind nach dem Mauerfall nach Jamaika gereist.

Richter: Ja, 1993. Diese Reise, diese Zeit hatte den größten Einfluss auf meine Musik und damit auf mein Leben. Ich war verdammt happy. Und alles kam zufällig zustande, was irgendwie zu der Zeit damals passt. Meine Freunde sind jedenfalls alle nach New York geflogen. Aber ich hatte irgendwann einmal einen Prospekt über Jamaika in die Hände bekommen – und hab kurzerhand entschieden: Ich flieg in die Sonne. Ohne zu wissen, was mich dort erwarten wird.

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