
Raphael Gielgen ist Trendscout Future of Work, Life & Learn bei Vitra. Und bezeichnet die aktelle Lage als Zeit der Reflektion.
In welcher Umgebung fühlen wir uns in Krisenzeiten am wohlsten? Wie verändert sich Optik und Funktion unserer Räume? Und welche Rückschlüsse auf den Zeitgeist lassen sich von Interior-Trends ziehen? Antworten gibt Raphael Gielgen, Trendscout Future of Work, Life & Learn bei der Designmarke Vitra, im Interview.
TextilWirtschaft: Wie verändern sich unsere Räume, Herr Gielgen?
Raphael Gielgen: In unsicheren Zeiten wird das Zuhause zu einem Ankerpunkt. Ein Ort, der Stabilität gibt, ohne laut zu sein. Es geht weniger um Ablenkung durch Farben und Muster sondern um die Schaffung eines Raums, der durch seine Materialität, seine Körpersprache und seine Einfachheit Ruhe ausstrahlt. Diese Suche nach einem beständigen Rückzugsort zeigt sich in einer Rückkehr zu ehrlichen, haptischen Materialien, zu Räumen, die nicht überinszeniert sind, sondern selbstverständlich wirken. Holz, Stein, natürliche Stoffe. Dinge, die altern, sich verändern, aber dabei an Qualität und Charakter gewinnen. Die Schönheit liegt im Wesentlichen, in einer klaren, fast intuitiven Architektur, die den Menschen nicht überfordert, sondern einlädt, zur Ruhe zu kommen. Diese Entwicklung ist kein Widerspruch zum Wunsch nach lebendigen, inspirierenden Orten. Sie zeigt vielmehr, dass wir heute Räume brauchen, die uns beides ermöglichen: Schutz und Offenheit, Vertrautheit und Anpassungsfähigkeit.
Ich bin in diesem Kontext vorsichtig mit dem Begriff Trend, weil er oft mit dem Kurzlebigen verwechselt wird. Mich interessiert eher die Frage, welche Entwicklungen eine tiefere, nachhaltige Bedeutung haben.
Zielgruppen-Ansprache
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Welche Entwicklungen sehen Sie und welche Rückschlüsse lassen Sie auf den Zeitgeist zu?
Aktuell sehen wir eine Bewegung hin zu einer neuen Art von Einfachheit. Nicht als Minimalismus der Leere, sondern als bewusste Konzentration auf das Wesentliche. Materialien werden wichtiger als Formen, Patina wichtiger als Perfektion. Es geht nicht mehr um das durchgestylte Zuhause, sondern um Orte, die eine Beziehung zu den Menschen haben, die in ihnen leben. Gleichzeitig beobachten wir eine Renaissance des Analogen. In einer Welt, in der fast alles digitalisiert werden kann, wächst der Wert des Physischen. Menschen suchen nach Möbeln, die nicht nur funktionieren, sondern erzählen – Möbel mit Geschichte, Substanz und Beständigkeit. Man spürt das in der Rückkehr zu handwerklicher Qualität, zu gelebten Materialien, zu einer Ästhetik, die nicht auf Perfektion, sondern auf Authentizität setzt. Und schließlich verändert sich die Rolle von Innenräumen insgesamt.
Sie werden adaptiver, durchlässiger, fluider. Arbeiten und Wohnen verschwimmen, private und öffentliche Räume vermischen sich. Die Architektur und das Design müssen darauf Antworten geben – nicht mit fertigen Konzepten, sondern mit Offenheit für Veränderung. Diese Entwicklungen zeigen, dass wir uns in einer Zeit der Reflexion befinden. Menschen suchen Stabilität in einer unsicheren Welt. Gute Gestaltung kann hier viel leisten: Sie kann nicht die Welt ändern, aber sie kann Menschen einen Rahmen geben, in dem sie sich wohlfühlen, sich konzentrieren, sich entfalten können.