Traumatisierter Ex-Soldat: Ein Krieg, dieser nicht enden will

Nachts kriechen die Erinnerungen wie Dämonen hervor, dringen in seine Träume ein. Sie
quälen Martin Thamm, rauben ihm den Schlaf, bringen seinen Körper dazu, sich aufzulehnen.
Aufgeschreckt von den Alpträumen, muss er sich oft übergeben. Die Bilder aus
Afghanistan, Pakistan und dem Kosovo bekommt der ehemalige Soldat nicht aus dem Kopf.

Thamm leidet
an einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung – kurz PTBS. An ihr erkranken
Opfer von Verbrechen, Menschen, die Gewalt und Furcht erlebt haben,
Überlebende von Konflikten und Katastrophen. Ihre Wunden am Körper heilen und vernarben, die auf der Seele aber reißen immer wieder auf. PTBS, vier Buchstaben, die dafür
stehen, dass Krieg und Krise bleiben
, auch wenn der Betroffene längst wieder in
Sicherheit lebt.

Aber was heißt schon Sicherheit? Damit die Angst ihn nicht überwältigt, braucht Martin Thamm jeden Tag Sertralin, einen Stimmungsaufheller. Isoptin sorgt dafür, dass sein Herz weiter pumpt. Promethazin verschafft ihm nachts wenigstens ein paar Momente der Ruhe. Und
Sumatriptan bekämpft die heftigen Schmerzen, die sonst wie Messerstiche durch seinen
Kopf fahren. Dazu kommen weitere Arzneien. Jeden Morgen liege vor ihm eine
kleine Armee aus Pillen und Tabletten, sagt er. „Ohne diese Medikamente hätte
ich mir längst die Knarre an den Kopf gesetzt.“

Gezeichnet vom Kampf in Afghanistan und gegen die Bundeswehrbürokratie: Martin Thamm

Thamm hat die Bundeswehr vor mehr als zehn Jahren verlassen. Doch nun will er zurück, um eine Therapie machen zu können, die ihm wirklich hilft, und dabei zugleich wirtschaftlich abgesichert zu sein. Die Truppe lehnt das ab, weil sie Thamms Krankheit nicht als „Wehrdienstbeschädigung“ anerkennen will. Sie bestreitet, dass er als Soldat schwer traumatisiert wurde. Nun soll die Justiz entscheiden. Thamm hat Klage am Verwaltungsgericht Münster eingereicht – wie so viele andere traumatisierte Soldaten auch.

Ein Elite-Soldat, durchtrainiert und belastbar

Martin Thamm, 54 Jahre alt, war für die Bundeswehr in sechs
Auslandseinsätzen. Er diente als speziell ausgebildeter Sanitäter, einer, der
ganz vorn im Gefecht seine Kameraden rettet, einer, der dort hingeht, wo
es besonders gefährlich ist. Er wurde im infanteristischen Kampf gedrillt, bei der
Bundeswehr, aber auch bei den Marines und der Army in
den Vereinigten Staaten. Bevor er am Hindukusch eingesetzt wurde, funktionierte er immer einwandfrei als Soldat, sammelte gute Bewertungen seiner Vorgesetzten, erfüllte seine Aufträge, war durchtrainiert und belastbar. Bilder aus den Einsätzen zeigen ihn neben Kameraden stehend, breite Brust, breites Kreuz, breites Lächeln.

Keine Werbung für die Personalgewinnung: Rekruten während der Basisausbildung in Munster. Wie mit ihm umgegangen werde, könne junge Leute abschrecken, sagt Martin Thamm.

Doch während eines Einsatzes in Afghanistan brach er dann zusammen. Er funktionierte plötzlich nicht mehr, zog sich zurück, stritt mit Offizieren. 

Am 31. Januar 2013 stellte er einen Antrag
auf Zurruhesetzung wegen psychischer Probleme. Thamm befand sich zu dieser Zeit bereits in Behandlung beim Truppenarzt, wurde an die Psychiatrie überwiesen. Zwei Monate verließ er dann die Bundeswehr auf eigenen Wunsch. Niemand hielt ihn auf. Niemand half ihm. Damals litt er bereits an einer PTBS, ohne zu wissen, was ihn ruhelos und aggresssiv machte, was für Panikattacken und Wesenveränderung sorgte. 13 mal wechselte Thamm seitdem den Arbeitgeber. Seit einigen Jahren steht die Diagnose PTBS, durch zivile Ärzte belegt.

„Heute ist die PTBS ein Schatten, der mich jeden Tag
begleitet. Sie ist nicht nur in meinem Kopf, sondern in meinem Herzschlag, in
meinen Muskeln, in meiner Nase, in meinem Geschmackssinn“, beschreibt Thamm, was die Krankheit für ihn bedeutet.
„Sie sitzt in der Stille zwischen zwei Atemzügen, lauert hinter
Geräuschen, die für andere harmlos sind.“

Martin Thamm zeigt einige seiner Tattoos. Sie erinnern ihn an die Verluste, der Bundeswehr und seine ganz privaten

Nun kämpft Thamm gegen die Bundeswehr, in die er 1988
als Wehrdienstleistender eingetreten und geblieben war. Erst als Soldat auf Zeit, dann als Berufssoldat. Er hat es nicht mehr mit bewaffneten Gegnern zu tun, sondern mit Paragrafen, mit Schreiben, mit Widersprüchen, mit
juristischen Verfahren vor Gerichten, mit Beamten und Behördenmitarbeitern. Sein Ziel: Er will zurück in die Truppe, um dort eine langfristige, stationäre Therapie im Bundeswehrkrankenhaus zu bekommen. Als Soldat wäre er dabei versorgt, auch finanziell. Als Angesteller riskiert er eine Kündigung, wenn er monatelang fehlt, oder muss mit Krankengeld über die Runde kommen. Das eine solcher Schritt möglich ist, dafür haben sich Veteranen jahrelang eingesetzt.

Sie haben das Einsatzweiterverwendungsgesetz erstritten. Es ermöglicht Soldaten, die an Körper oder Seele verwundet wurden, formlos einen Antrag auf Wiedereinstellung in ein „Wehrdienstverhältnis besonderer Art“ zu stellen. Sie sollen, so hat es der Gesetzgeber vorgesehen, in einer Schutzzeit, Leistungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation zu erhalten. In der Praxis allerdings, sieht es allerdings oft anders aus. Betroffene berichteten der ZEIT von schier endloser Bürokratie und viel Ablehnung. Auch Thamms Rückkehr in den Dienst scheint die Truppenverwaltung verhindern zu wollen.

Das Blut der Verwundeten lief durch seine Uniform

Was er als Soldat und bei seinem Konflikt mit den Behörden erlebt hat, das hat Thamm
in seinem Buch „Heimkehr im Nebel“ aufgeschrieben, das er im Selbstverlag herausbringt. Eindringlich beschreibt er darin, was zu seinem Trauma führte: „Ich trug Verwundete, deren Blut sich warm durch meine
Uniform fraß. Ich nahm Abschied von Kameraden, bevor sie ihre letzte Nachricht
nach Hause senden konnten. Ich kam zurück. Äußerlich heil, innerlich zerschlagen.“

Sein Dienst als Rettungssanitäter in Afghanistan, in Pakistan und auf dem
Balkan habe ihn täglich mit dem Sterben konfrontiert. „Nicht
abstrakt, sondern konkret: zerrissene Leiber, zerbrochene
Blicke, das zitternde Atmen von Verwundeten – Kameraden,
Soldaten, Zivilisten, Kinder“, schreibt Thamm. Und nennt viele dramatische Erlebnisse: Im Kosovo war er kurz nach einem
Minenunfall als einer der Ersten Hefler vor Ort. Ein italienischer Entschärfer war bei der Explosion gestorben, ein deutscher Kamerad wurde schwer verletzt. „Ich erinnere mich an sein
Blut, an seine Augen. Ich sprach mit ihm, während wir ihn
versorgten“, schreibt Thamm. „Er
überlebte, aber etwas in ihm war tot. Die Leiche des
italienischen Kameraden lag mehrere Tage bei uns in einem
Kühlcontainer.“

Er versorgte auch einen georgischen Soldaten, der als Wachposten
am Lagerzaun angeschossen wurde. Ein anderer Fall: Ein Kamerad beging mit der Dienstpistole im Feldlager Selbstmord. In Afghanistan erlebte er dann erneut Beschuss mit Raketen und Mörsern, Gefechte, schwer verwundete Kameraden. Am 2. Juni 2011 gab es einen Sprengstoffanschlag, bei dem ein Soldat starb, fünf schwer verletzt wurden. Thamm war wieder einmal bei der Erstversorgung dabei.

Zeit heilt alle Wunden, heißt ein Sinnspruch, der Mut machen soll. Auf Martin Thamm trifft das nicht zu. Sein Zustand wird mit den
Jahren nicht besser. Ganz im Gegenteil. Dass es ihm schlechter geht,
dass die
Angst ihn nicht verlässt, daran trägt aus seiner Sicht auch die Bürokratie der Bundeswehr Schuld, vor allem das BAPersBw, das Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr, das seine Rückkehr in die Truppe verhindere.

Thamm möchte endlich eine Therapie machen

Zu dem Fall wollen das Verteidigungsministerium und das Amt keine Angaben machen, grundsätzlich könne man sich „zu
personenbezogenen Daten, Sachverhalten oder Gerichtsverfahren sowie zu
internen Prüfungen nicht äußern“. Dabei hatte die zuständige
Pressestelle sich mehr Zeit erbeten, um auf Fragen der ZEIT
reagieren zu können. Sie schickte dann Antworten wie diese: „Das
an Recht und Gesetz ausgerichtete Verwaltungshandeln stellt ein
objektivierbares und gerichtlich nachprüfbares Verfahren sicher.“ Und: „Das BAPersBw ist wie jede Behörde an Recht und Gesetz gebunden.“

Genau das aber ist das Problem. Denn das Gesetz, sagt Thamm, stehe inzwischen auf seiner Seite. Am 25. April 2024 schloss der Bundestag aus Gründen einer „umfassenden Wertschätzung“ gegenüber Veteranen  ein wichtige Lücke im Einsatzweiterverwendungsgesetz. Es soll einsatzgeschädigten Berufssoldaten die medizinische und berufliche Rehabilitation im Soldatenstatus ermöglichen. Bis dahin galt das nur für Soldaten auf Zeit. Den Betroffenen soll damit die Gewissheit gegeben werden, dass sie der Dienstherr in dieser schwierigen Zeit nicht allein lasse, hält der aktuelle Jahresbericht der Wehrbeauftragten des Bundestages fest. Thamm schöpfte wieder Hoffnung, dass die Bundeswehr nun auch ihn zurücknehmen würde.

Ausgezeichnet: Martin Thamm zeigt seine Einsatzmedaillen.

Doch das geschah nicht. Die zuständige Behörde bestreitet, dass er im Dienst erkrankt ist und unterstellte ihm eine Bereicherungsabsicht, ohne dafür einen Beweis vorzulegen. Zudem spricht sie ihm, der viele Jahre bereits gedient hat, die charakterliche Eignung ab, weil er eine Angabe zum Arbeitgeberwechsel nicht gemacht habe. Thamm kritisiert, dass die Mitarbeiter des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr ihm und anderen Veteranen meist respektlos und herablassend behandeln.

„Ich kam zurück. Äußerlich heil, innerlich zerschlagen“, sagt Martin Thamm.

Der Veteran beklagt ausufernde Bürokratie, Ablehnung und Widerstand

Man begegne ihnen mit „ausufernder Bürokratie, Ablehnung und teils scharfem Widerstand. Unsere Einsätze, unsere Opfer und unsere Erkrankungen werden bagatellisiert, ignoriert oder versucht zu widerlegen“, stellt Thamm hingegen fest. „Statt Hilfe erhalten wir häufig Schriftsätze, in denen unsere psychischen Verwundungen oder die Motivation des Antrages infrage gestellt werden. Und wenn wir versuchen, unsere Rechte einzufordern, begegnet man uns mit einer Haltung, die oft genug eines vermittelt: Wir entscheiden,
wie viel Sie wert sind.“

Auch zu diesen Vorwürfen wollte die Bundeswehr keine konkrete Stellung
nehmen. Es handele sich um gesetzlich vorgegebene Verfahren, die mit der gebotenen Sorgfalt und Unvoreingenommenheit betrieben würden,
heißt es nur.

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