Ein Ende und kein Neubeginn – Seite 1
Die Kenianerinnen und Kenianer haben in der vergangenen Woche eine Königin verloren und einen neuen Präsidenten bekommen. Mit beiden ist das so eine Sache. Fangen wir mit dem Tod der Queen an.
Königin von Kenia war sie zwar schon lange nicht mehr. Das Land hatte sich 1964, gerade unabhängig geworden, zu einer Republik innerhalb des britischen Commonwealth erklärt. Doch anlässlich ihres Todes erinnerten die kenianischen Medien daran, dass Elizabeth einst in Kenia „als Prinzessin zu Bett ging und als Königin wieder aufwachte“. Denn als am 6. Februar 1952 die Nachricht vom Tod ihres Vaters, König George VI., um die Welt ging, ruhte sie gerade in einer malerischen Lodge am Mount Kenya.
Eine nette Anekdote für die kenianisch-britischen Beziehungen, hätten nicht zwei Jahre später Unabhängigkeitskämpfer der Armee für Land und Freiheit, von den Briten „Mau Mau“ genannt, das Hotel niedergebrannt. Beim Versuch, den Aufstand niederzuschlagen, deportierten britische Truppen in den Fünfzigerjahren anderthalb Millionen Kenianer in Haftlager, exekutierten, folterten und vergewaltigten Tausende. Was der Queen spätestens bewusst geworden sein müsste, als 2011 erstmals Überlebende das Recht erhielten, vor britischen Gerichten auf Entschädigung für diese Gräueltaten zu klagen – mit eher bescheidenem Erfolg.
Kenias Regierung ließ vergangene Woche zwar die Fahnen in Gedenken an die Queen auf halbmast setzen. Aber die Trauer in Nairobi, Kisumu oder Mombasa hielt sich in Grenzen. Was nicht nur mit der Kolonialzeit zu tun hat, sondern auch damit, dass die Kenianerinnen und Kenianer derzeit mit Wichtigerem beschäftigt sind. Allem voran mit ihrem neuen Präsidenten William Ruto, mit dem Zustand ihrer Demokratie und der Frage, ob Wahlen eine Demokratie irgendwann auch ruinieren können. Was wiederum nicht nur für Kenia interessant ist.
Entgegen allen Befürchtungen war die Stimmabgabe am 9. August weitgehend friedlich und fair verlaufen. Dann kam das Drama. Als die Wahlkommission Ruto sechs Tage später überraschend mit 50,49 Prozent zum Sieger erklärte, zweifelten einige ihrer Mitglieder das Ergebnis offen an. Was als transparenteste und fairste Wahl in der kenianischen Geschichte und als Signal für den Kontinent angekündigt worden war, steckte plötzlich im altbekannten Karussell von Verdächtigungen und Vorwürfen der Manipulation. Dieses Karussell hielt einige Wochen später der hochgeachtete, weil politisch unabhängige Oberste Gerichtshof an, indem er eine Klage von Rutos Gegner, Raila Odinga, abwies. Die Richter sahen keine Anzeichen für Manipulation oder Betrug.
Am vergangenen Dienstag wurde William Ruto in Nairobi feierlich als Präsident vereidigt. Der 55-Jährige nennt sich selbst gern „The Hustler„, was Wörterbücher mit „Abzocker“, „Dealer“, „Stricher“ übersetzen, worunter in Kenia aber ein abgebrühter Überlebenskünstler gemeint ist. Anders als Odinga, sein Gegner, und Uhuru Kenyatta, sein Amtsvorgänger, stammt Ruto nicht aus einer politischen Dynastie (Kenyattas und Odingas Väter gelten als Gründungsfiguren des unabhängigen Kenia, was vor allem den Kenyattas über die Jahrzehnte zu erheblichem Reichtum verholfen hat). Ruto hingegen hütete in seiner Jugend Kühe, verkaufte Hühner, hat keine teure Privatschule oder britische Universität besucht. Im Wahlkampf präsentierte er sich geschickt als gottesfürchtiger „Mann aus dem Volk“.
In Wahrheit zählt Ruto seit bald 20 Jahren zum Club der Alphamänner in der kenianischen Politik, zuletzt war er fünf Jahre lang Vizepräsident des Landes. Aber sein – denkbar knapper – Sieg gilt als Indiz dafür, dass Wahlen in Kenia heute nicht mehr durch die Mobilisierung entlang ethnischer Zugehörigkeit zu gewinnen sind, sondern eher mit populistischem Klassenkampf nach dem Motto „Ihr da oben, wir da unten“.
Kleiner Exkurs in die kenianische Ethnopolitik: Die Kenyattas gehören zur größten Bevölkerungsgruppe der Kikuyu, die maßgeblich am Unabhängigkeitskampf beteiligt war. Odinga stammt (wie übrigens auch der Vater von Barack Obama) aus der Ethnie der Luo, die sich in den vergangenen Jahrzehnten bei der Teilhabe an politischer Macht diskriminiert fühlten. Ruto kommt aus der drittgrößten Gruppe der Kalendjin.
Bei der Wahl bekam Ruto gerade mal 50 Prozent der Stimmen
Dass er nun selbst der Ethnisierung politischer Machtkämpfe abgeschworen hat, spricht für seinen Pragmatismus. Kenias größtes Trauma der letzten zwei Jahrzehnte ist ein Fast-Bürgerkrieg, der 2008 nach offensichtlich manipulierten Präsidentschaftswahlen ausbrach. Über 1.000 Menschen wurden getötet, über eine halbe Million vertrieben, als bewaffnete Gruppen der Kikuyu und Kalendjin auf der einen und der Luo auf der anderen Seite sich bekämpften.
Als einer der Drahtzieher der Pogrome galt William Ruto, was ihm zusammen mit Uhuru Kenyatta eine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag einbrachte. Das Verfahren wurde wenige Jahre später eingestellt: Mehrere Zeugen der Anklage waren verschwunden, unter ungeklärten Umständen verstorben oder hatten ihre Aussage zurückgezogen. Das ist die andere Seite des „Hustler„, der gern öffentlich vor Gott auf die Knie fällt.
So groß der Jubel bei seiner Vereidigung auch war, ein Mandat hat Ruto mit gerade mal 50 Prozent der Stimmen nicht. Schon gar nicht bei einer Wahlbeteiligung, die von fast 80 Prozent 2017 auf jetzt 64 Prozent gesunken ist. Kenia mag immer noch eine relativ stabile Demokratie mit einer unabhängigen Justiz und einer fortschrittlichen Verfassung sein (2010 unter anderem gegen Politiker wie Ruto durchgesetzt). Aber eine wachsende Zahl der überwiegend jungen Bevölkerung sieht in ihrem Stimmrecht derzeit kein Instrument, um endlich eine für Selbstbereicherung und Korruption berüchtigte Elite abzulösen.
Ruto redet dieser Tage viel von nationaler Einheit, kündigt schnelle Hilfe für eine von der Pandemie gebeutelte Wirtschaft und für Hunderttausende Menschen im Norden des Landes an, denen aufgrund anhaltender Dürre eine Hungersnot droht. Aber wer viel verspricht, kommt schnell in Zugzwang. Zumal dem „Hustler“ nun auch eine Gruppe auf die Füße tritt, die mit dem Tod der Queen wieder in den Vordergrund gerückt sind: die Veteranen des Unabhängigkeitskampfes und ihre Familien. 2011 hatten über 5.000 kenianische Überlebende britischer Folterlager das Recht erstritten, in Großbritannien auf Entschädigung zu klagen. 2013 einigten sie sich mit der britischen Regierung auf eine Kompensationszahlung von insgesamt 20 Millionen Pfund.
Also etwas über 3.000 Pfund pro Person. Eigentlich eine skandalös niedrige Summe. So viel bekommt ein Geschädigter in europäischen Schadensersatzprozessen heutzutage für eine gebrochene Nase. Aber die meisten kenianischen Veteranen waren da schon über 80 und fürchteten, eine Einigung mit London nicht mehr zu erleben.
Inzwischen sind zahlreiche der Veteranen verstorben, ohne je etwas von dem Geld gesehen zu haben. Die noch Lebenden haben nun wieder eine Regierung verklagt – und zwar ihre eigene. Denn die, so ihr Vorwurf, habe sich seit der Einigung mit Großbritannien nicht darum gekümmert, dass die von London bereitgestellten Kompensationsgelder an die Betroffenen ausgezahlt werden. Diese Aufgabe fällt in Zuständigkeit des Vizepräsidenten.
Und der hieß zuletzt William Ruto.