Heinz Strunk hat mit dem jüngst gefeierten Roman Zauberberg 2 nicht zum ersten Mal Thomas Mann gekapert und in die deutsche Gegenwart verschleppt. 2022 hat er es, wenn auch mit weniger expliziten Parallelen, schon einmal gemacht, als er den Tod in Venedig auf einen Sommer in Niendorf reduzierte. Dieses ironische Bonsai-Format der tragischen Künstlernovelle ist jetzt als kabarettistische Nummernrevue am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zu sehen – ein großer Spaß, trotz der auch hier unabweisbaren Fatalität der Liebe, und zwar vor allem wegen der übersprudelnden Spielenergie Charly Hübners in der Rolle des alternden Schriftstellers, der länger als für ihn bekömmlich am langsam kollabierenden Ferienort verbleibt.
Er stirbt allerdings nicht wie Thomas Manns Aschenbach an der Cholera, sondern verfällt nur dem Suff und einer unaufhaltsam fortschreitenden Verwahrlosung. Es ist das Prinzip der Strunkschen Adaptionen, Ort, Handlung und Personen konsequent tieferzulegen – in weniger glamouröse Verhältnisse zu übersetzen. Aus Venedig ist ein Ostseebad der schäbigeren Sorte geworden, die Hauptfigur ist auch kein Großschriftsteller, sondern der Anwalt Dr. Roth, der sich nur als Amateur an der Schriftstellerei versucht, und das Objekt seiner Begierde kein überirdisch schöner Knabe, sondern eine schnippische Kellnerin (Josefine Israel). Vor allem aber besteht die eigentliche Verführung zum Untergang nicht in der erotischen Versuchung, sondern in dem alkoholisierten Schlendrian, den ihm ein denkwürdig verkommener Strandwirt (Yorck Dippe) und dessen munter resignierte Freundin (Bettina Stucky) nahebringen.
Das alles, man kann es sich denken, entfaltet sich in einem schrill-amüsanten Reigen possenhafter Begegnungen, wie von dem Ensemble nicht anders zu erwarten, das unter dem Label Studio Braun schon mehrfach Stücke oder Musik von Strunk realisiert hat, zuletzt die Kleist-Adaption Coolhaze (2021). Kern der legendären Truppe sind Rocko Schamoni, Jacques Palminger und Strunk selbst, allesamt geniale, von zartem Weltschmerz umflorte Spaßmacher. Sie liefern auch hier wieder hohe Virtuosität, noch höheren Unernst und bis an die Grenze des Machbaren ausgereizte Bühnentechnik, die zum Teil filmische Effekte hervorbringt, wie sie selbst von raffiniertester Videotechnik nicht zu erreichen wären, insbesondere bei der Simulation einer Springflut und dem anschließenden Unterwasserballett der jetzt wirklich ersoffenen, nicht nur versoffenen Figuren.
Vollkommen originell ist das in ästhetischer Hinsicht nicht. Man könnte es als eine Mischung von Christoph Marthaler und Helge Schneider beschreiben. Marthaler-haft sind die skurril überzeichneten Charaktere, die absurd-anmutigen Tanz- und Gesangseinlagen; an Helge Schneider erinnern die komisch entgleisenden Assoziationen – was auf eine bestimmte Pointe zuzulaufen scheint, verliert sich in einem Dickicht anderer, ebenfalls möglicher Pointen. Der Text vergisst gewissermaßen seine eigene Textabsicht, aber das ist hier, bei Strunk, nicht nur zum Lachen, sondern auch beängstigend und traurig, es zeigt die zunehmende Dezentrierung der Hauptfigur, die am Ende gar nicht mehr weiß, was sie will oder gewollt hat oder ob sie überhaupt noch irgendetwas will.
Dies ist die Größe dieses Theaterabends, dass er eben nicht nur alles veralbert – zum Beispiel die lächerliche Ambition des Dr. Roth, der Schriftsteller werden will und sich in Albträumen schon vor einem Verriss durch die Gruppe 47 fürchtet (besonders lustig dabei: Heinz Strunk als Martin Walser). Die wirkliche Tragik des Stücks liegt vielmehr darin, dass Roth sich von dieser Ambition und allen anderen Ambitionen am Ende verabschiedet und tatsächlich nur noch säuft – er gibt jeden Willen auf und lässt sich befreit auf die Verwahrlosungsstufe des fatalen Strandwirts durchsacken. Damit gewinnt Strunk, nicht ungenial, dann doch tatsächlichen Anschluss an den Kern der Thomas-Mann-Novelle: an das Drama der Selbstaufgabe, genauer gesagt, der Befreiung zum Tod durch Selbstaufgabe.