Was wohl als gewöhnlicher, stressiger Schichtbeginn im Amazon-Zentrum Erfurt-Stotternheim startete, entwickelte sich im Laufe des Vormittags am 17. November 2025 zu einem Ereignis, das mittlerweile viele Fragen aufwirft: Ein Beschäftigter „Packer“ wurde leblos auf einer Toilette gefunden – nachdem er offenbar vergeblich versucht hatte, sich krankzumelden.
Nach Angaben der Gewerkschaft Verdi handelt es sich bei dem Verstorbenen um einen 59-jährigen Deutsch-Algerier. Der Name ist dem Freitag bekannt, soll aber nicht veröffentlicht werden. Der zuständige Verdi-Sekretär Matthias Adorf schildert im Gespräch, der Mann habe sich zu Beginn der Frühschicht krankmelden wollen. Was dann passiert ist, darüber gehen die Schilderungen auseinander.
Was passierte am Vormittag des 17. November? Eine Rekonstruktion
Hat Amazon den Mitarbeiter nach Hause geschickt? Oder hat das Unternehmen ihm eine „einfachere Arbeit“ zugewiesen? Amazon bestreitet das: Der betroffene Mitarbeiter habe sich demnach vor seiner Pause gemeldet. Es sei vereinbart worden, dass er zunächst die anstehende Pause wahrnehme und entscheide, ob er nach Hause geht. So sei Amazon davon ausgegangen, dass der Beschäftigte das Betriebsgelände verlassen habe.
Matthias Adorf ist skeptisch: Der Beschäftigte habe offenbar rund zweieinhalb Stunden leblos auf einer Toilette gelegen. Er verweist darauf, dass bei Amazon üblicherweise jede Minute der Arbeitszeit erfasst werde und Mitarbeiter bereits nach wenigen Minuten Untätigkeit zu Gesprächen geladen würden. Für ihn wirft der Fall deshalb die Frage auf, wie es möglich war, dass der Mann weder von der Arbeit freigestellt noch früher gefunden wurde.
Die Gewerkschaft versucht, ein falsches Bild des tragischen Geschehens zu zeichnen
Ein Sprecher von Amazon widerspricht dieser Darstellung: „Die Gewerkschaft versucht, ein falsches Bild des tragischen Geschehens zu zeichnen.“ Amazon bestreitet außerdem, dass es sich um einen Arbeitsunfall handelt.
Mittlerweile ist Verdi selbst an die Öffentlichkeit getreten und fordert Aufklärung. Die übernimmt nun die Staatsanwaltschaft Erfurt. Die Ermittlungen hierzu dauern jedoch an, sodass bislang keine weiteren Angaben gemacht werden können, so eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Auch Amazon beteuert, dass sie an der Aufklärung interessiert seien: „Selbstverständlich haben wir sofort und seither durchgehend eng mit den Behörden zusammengearbeitet und tun dies weiterhin“, sagte ein Amazon-Sprecher auf Nachfrage des Freitag.
Die Debatte über Arbeitsbedingungen hält an
Während jetzt also die Staatsanwaltschaft ermittelt, ob Fremdverschulden vorliegt, hält die Debatte über die Arbeitsbedingungen im sogenannten Fulfilmentcenter in Erfurt-Stotternheim an. „Mich überrascht dieser tragische Tod leider nicht“, sagt Verdi-Sekretär Matthias Adorf. Seit der Eröffnung des Centers vor eineinhalb Jahren beobachte die Gewerkschaft dort Arbeitsbedingungen, die Beschäftigte stark belasteten. Der Arbeitsdruck sei hoch, viele der Mitarbeitenden seien Migrant*innen oder Drittstaatsangehörige – oft mit befristeten Verträgen, an die sich auch Aufenthaltsfragen knüpfen könnten. Entsprechend groß sei die Sorge in der Belegschaft, nicht nur das Einkommen, sondern auch den Aufenthaltsstatus zu verlieren.
Nach Bekanntwerden des Vorfalls hätten sich zahlreiche Beschäftigte bei ihm gemeldet, berichtet Adorf. Der Freitag konnte einige der Nachrichten einsehen; darin schildern Beschäftigte Erschöpfung und anhaltenden Druck im Arbeitsalltag.
Die betrieblichen Sanitäter hat Amazon erst wenige Wochen vorher abgeschafft
Der Todesfall in Erfurt ist nicht der erste in einem Amazon-Betrieb. Am 27. Dezember 2022 starb der 61-jährige Rick Jacobs während seiner Schicht in einem Lager im US-Bundesstaat Colorado an Herzversagen; auch im Logistikzentrum Leipzig kam im August 2022 ein Mitarbeiter ums Leben.
Im Gespräch stellt Matthias Adorf die Frage, ob der Verstorbene in Erfurt möglicherweise hätte gerettet werden können, wenn es im Fulfilment-Center noch betriebliche Sanitäter gegeben hätte. „Die hat Amazon erst wenige Wochen vorher abgeschafft“, sagt er. Adorf vermutet, die bisherige interne Sanitätsstruktur habe aus Sicht des Unternehmens zu vielen Krankmeldungen geführt und sei daher geändert worden – mit dem Ziel, die Krankenquote zu senken.
Wie geht Amazon mit kranken Beschäftigten um?
Verlässliche, aktuelle Zahlen gibt es dazu allerdings nicht. Bekannt ist, dass der Krankenstand bei Amazon im Jahr 2017 laut Verdi zeitweise bei bis zu 20 Prozent lag und damit deutlich über dem damaligen bundesweiten Durchschnitt. Mit einem umstrittenen Bonussystem versuchte das Unternehmen seinerzeit gegenzusteuern.
Die Sozialwissenschaftlerin Sabrina Apicella, die seit vielen Jahren zu Amazon forscht, berichtet von ähnlichen Entwicklungen. „In Interviews schildern mir Beschäftigte aus verschiedenen Standorten hohe Krankenstände mit wiederkehrenden körperlichen und psychischen Beschwerden, die sie mit der Arbeitsbelastung in Verbindung bringen.“ Zudem werde auf erkrankte Mitarbeitende zunehmend Druck ausgeübt, Aufhebungsverträge zu unterschreiben. Amazon selbst messe dem Thema große Bedeutung zu.
In Interviews schildern mir Beschäftigte hohe Krankenstände, die sie mit der Arbeitsbelastung in Verbindung bringen
Apicella zufolge berichten Beschäftigte von Einzelgesprächen mit häufig Erkrankten sowie von Ansprachen an die Belegschaft, in denen zwischen „krank“ und „arbeitsunfähig“ unterschieden werde – verbunden mit der Erwartung, dass bei voller Lohnzahlung auch vollständige Anwesenheit und Leistungsfähigkeit zu erbringen seien. Intern trügen solche Gespräche den Namen „Because We Care“, erklärt die Autorin des Buches „Das Prinzip Amazon“.
Auch Verdi-Sekretär Adorf sieht bei Krankmeldungen strukturelle Probleme. „Wir hören immer wieder, dass Amazon nach zusammengerechneten sechs Wochen mit unterschiedlichen Erkrankungsgründen keine Lohnfortzahlung leisten will und die Beschäftigten an die Krankenkassen verweist“, sagt er. Diese wiederum schickten die Betroffenen zurück zum Arbeitgeber – mit der Folge, dass einige Beschäftigte während einer Erkrankung zeitweise ohne Lohn dastünden. Wie die Situation für die Amazon-Beschäftigten insgesamt verbessert werden kann, sei ebenfalls aktuell unklar.
Warum die gewerkschaftliche Organisierung am Standort Erfurt schwierig ist
Für die Gewerkschaft gestaltet sich die Organisierung am Standort Erfurt schwierig. Zwar gebe es einen Betriebsrat, doch nach Angaben von Verdi gilt dieser vielen Beschäftigten als „managementnah“ und nicht gewerkschaftlich geprägt. Beobachter sehen darin schon seit vielen Jahren eine Strategie, die Amazon in Deutschland zunehmend verfolge: Unternehmen sollen demnach betriebliche Vertretungen installieren oder fördern, gewerkschaftlicher Einflussnahme skeptisch gegenüberstehen – ein Vorgehen, das Kritiker als „gelbe Betriebsräte“ bezeichnen.
Die hohe Fluktuation der Belegschaft, die zudem viele verschiedene Sprachen spricht, erschwert unsere Arbeit zusätzlich
Auch andere US-Unternehmen, die als mindestens „gewerkschaftsfern“ gelten, nehmen sich solche Strukturen zum Vorbild; zum Beispiel Tesla in Grünheide. Nach Jahren intensiver Auseinandersetzungen, beeindruckenden Streiks, breit aufgestellten Organizing-Kampagnen und ersten Erfolgen wie Lohnerhöhungen scheint Verdi bei Amazon derzeit kaum noch Fortschritte zu erzielen. „Die hohe Fluktuation der Belegschaft, die zudem viele verschiedene Sprachen spricht, erschwert unsere Arbeit zusätzlich“, sagt Adorf. Ein Tarifvertrag mit Amazon – einst das zentrale Fernziel der Gewerkschaft – scheint heute weiter entfernt denn je.
Für den verstorbenen Deutsch-Algerier spielt das alles keine Rolle mehr. Sein Leben endete im Fulfilment-Center in Erfurt-Stotterheim. Sein Leichnam wurde mittlerweile nach Algerien überführt und dort beerdigt.