Thüringen und Sachsen: Wie zwei Orte welcher AfD-Dominanz trotzen

Die Umfragen lassen kaum einen Zweifel. Nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen am Sonntag wird sich die politische Landkarte in Ostdeutschland wohl tiefblau färben. Die rechtspopulistische AfD, die vom Verfassungsschutz in beiden Ländern als gesichert rechtsextrem eingestuft wird, liegt in Thüringen mit großem Abstand vor der CDU. In Sachsen liefern sich AfD und Union bis zuletzt ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Doch es gibt Orte, da herrscht keine blaue Dominanz. Teile des Siedlungsgebiets der Sorben in Sachsen zum Beispiel. „Ministerski Prezident wšěch Saksow“, steht auf dem Wahlplakat am Ortseingang der sorbischen Gemeinde Crostwitz. CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer, der auf einen neuerlichen Regierungsauftrag hofft, wirbt hier auf Sorbisch, ein „Ministerpräsident aller Sachsen“ zu sein. Der Ort ist eine Hochburg der Konservativen. Doch auch in Thüringen könnten markante Punkte auf der politischen Landkarte über die Grundierung der politischen Landschaft für die nächsten fünf Jahre entscheiden. In der Universitätsstadt Jena finden die extrem Rechten deutlich weniger Zustimmung als im Rest des Landes. Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat zwar kaum Chancen, im Amt zu bleiben. Am Sonntag geht es aber nicht zuletzt um die Frage, ob die AfD im Landtag in Erfurt künftig über eine Sperrminorität verfügt.

Buntes Jena: Auch hier hat die AfD weniger Anhängerdpa

Woran liegt es, dass die Parolen der AfD nicht überall verfangen? „Wir haben hier alles, was es anderswo auch gibt, wir sind hier keine Insel der Glückseligen“, sagt Marko Klimann, der Bürgermeister von Crostwitz. Wenige Tage vor der Wahl sieht es hier ganz nach ländlicher Idylle aus. Doch der Bus der Sparkasse, der hier einmal in der Woche für eine halbe Stunde haltmacht, die drei geschlossenen Gasthäuser und die vergebliche Suche nach einem Lebensmittelgeschäft beim Rundgang durch das Dorf deuten an, dass Crostwitz mit typischen Problemen kämpft. Immerhin: Einen eigenen Bäcker gibt es noch. „Und einen Uhrmacher haben wir auch“, sagt Klimann.

Der CDU-Mann, der seit neun Jahren im Ehrenamt die Gemeinde führt, ist spätestens seit 2019 daran gewöhnt, nach Erklärungen für das Wahlverhalten in der Gemeinde gefragt zu werden. Denn bei der Landtagswahl vor fünf Jahren lag der Stimmenanteil der AfD hier bei gut 17 Prozent, während sie landesweit mehr als 28 Prozent erreichte. Der Zulauf zu den Rechtspopulisten war in dem Dorf mit seinen gut 1000 Einwohnern geringer als in Teilen von Dresden und Leipzig. Bei der Europawahl Anfang Juni zeigte sich ein ähnliches Bild. Mit knapp 21 Prozent erzielte die AfD in Crostwitz sachsenweit das drittschlechteste Ergebnis. Landesweit schaffte sie mehr als 30 Prozent und überholte die CDU. An Crostwitz lag es nicht: Hier erzielte die Union mit 48 Prozent ihr stärkstes Resultat. 2019 waren es sogar 66 Prozent.

Eine einfache Erklärung gibt es nicht

„Wenn es so einfach wäre“, sagt Klimann auf die Frage, wie die CDU in der sorbischen Gemeinde die AfD auf Abstand hält. Doch eine einfache Erklärung gibt es nicht. Wirtschaftlich gehe es der ehemals von der Landwirtschaft geprägten Gemeinde gut. Die Wirtschaftskraft je Erwerbstätigen im Landkreis Bautzen lag mit knapp 65.000 Euro 2022 allerdings unter dem Durchschnitt in Sachsen, der wiederum unter dem bundesdeutschen Durchschnitt liegt. Der wichtigste Arbeitgeber im Ort ist das Altenheim. Die meisten Beschäftigten pendeln ins nahe gelegene Kamenz, nach Bautzen oder knapp 50 Kilometer nach Dresden. Die Bevölkerung in Crostwitz ist seit der Wende um etwa ein Zehntel geschrumpft, hält sich aber seit Jahren stabil und hat sich etwas besser als das Bundesland insgesamt entwickelt. Die Kindertagesstätte, deren Platzangebot Klimann gerade erweitert hat, ist der größte Posten im Haushalt der Gemeinde.

Das Deutsche Zentrum für Astrophysik (DZA) stellte in Crostwitz vor einigen Monaten seine Pläne vor, auf dem Gebiet einer Nachbargemeinde 200 Meter tief in den Lausitzer Granit zu bohren und hier ein Untergrundforschungslabor ein­­zu­richten. „Das Interesse war riesig, auch weil es Vorbehalte gab, dass das nur ein Vorwand ist, um nach einem Endlager für Atommüll zu suchen“, sagt Klimann. Diese Sorgen habe das DZA zerstreut, sagt der Bürgermeister. Das Vertrauen in die Politik, die für das geplante Großforschungszentrum bis 2038 mehr als eine Milliarde Euro aus Strukturstärkungsmitteln zur Verfügung stellt, scheint in Crostwitz aber kaum höher als im Landesdurchschnitt zu sein.

Eine mögliche Erklärung für das Wahlverhalten ist augenfällig: Das Bild der Gemeinde wird dominiert vom barocken Kirchenbau. Zur Kirchengemeinde zählen mehr als 30 überwiegend katholische Dörfer in der Umgebung. Mit etwa 3700 Gläubigen ist Crostwitz die größte sorbischsprachige katholische Kirchengemeinde im protestantisch geprägten Sachsen. „Sie haben hier das Spezifikum einer katholischen Diaspora, die die Dorfgesellschaft mit ihren soziokulturellen Tra­di­tionen und Bindungen zusammenhält“, sagt Hans Vorländer, Politikwissenschaftler an der TU Dresden. Ähnliches gilt für den katholisch geprägten Thüringer Landkreis Eichsfeld, wo die AfD ebenfalls einen vergleichsweise schweren Stand hat. Měrćin Deleńk, der Pfarrer von Crostwitz, der jedes Wochenende allein in den drei Hauptgottesdiensten insgesamt 750 Besucher begrüßt, lässt die tiefe Verbundenheit mit dem katholischen Glauben nicht als Begründung für die Wahlergebnisse gelten.

Über Politik spricht Deleńk, der wie Bürgermeister Klimann Sorbe ist, nicht gerne. Nur so viel: „Alle Probleme, die es gibt, die gibt es hier auch.“ So war es wahrscheinlich schon, als die Sorben sich vor etwa 1400 Jahren im Zuge der Völkerwanderung hier niederließen. Im Kloster Sankt Ma­rienstern im Nachbarort Panschwitz-Kuckau, der ebenfalls zur Kirchengemeinde Crostwitz zählt, bestätigt sich die Einschätzung des Pfarrers. Im Klosterladen ist Migration jedenfalls das erste Stichwort, das zur Begründung für die Unzufriedenheit mit der Politik aufgerufen wird. Die Ordensschwester an der Klosterpforte seufzt auf die Frage nach der Landtagswahl: „Man weiß nicht mehr, was man wählen soll, aber nicht wählen, das geht auch nicht.“

„Es geht um jede Stimme“

Im etwas mehr als 200 Kilometer westlich von Crostwitz gelegenen Jena ist die Stimmung kurz vor der Landtagswahl in Thüringen deutlich energischer. „Es geht um jede Stimme, damit wir eine Sperrminorität der AfD vermeiden können“, sagt Jan Christian Waitschies, Gründer der Softwarefirma Wunschlösung aus Jena und Vertreter der landesweiten Initiative „Weltoffenes Thüringen“. Sollte die AfD am Wochenende ein Drittel der Landtagsmandate gewinnen, könnte sie künftig auch unabhängig von einer Regierungsbeteiligung Gesetze blockieren. In Jena macht man sich darüber besonders große Sorgen.

„Sollte es bei der Landtagswahl schiefgehen, würde uns das am härtesten treffen“, sagt Oberbürgermeister Thomas Nitzsche. Der FDP-Politiker leitet die Geschicke der Stadt seit 2018. Im Sommer setzte er sich im Kampf um eine zweite Amtsperiode in einer Stichwahl durch – gegen eine Kandidatin der Grünen. Die Erfolgswelle der AfD scheint regelmäßig an der Stadtgrenze zu brechen. Dazu passte zuletzt auch die Nachricht, dass Björn Höcke, der Spitzenkandidat der AfD für die Landtagswahl in Thüringen, einen Wahlkampfauftritt in Jena absagte, nachdem mehr als 2000 De­monstranten gegen die Veranstaltung protestiert hatten.

Bei der Landtagswahl vor fünf Jahren verzeichnete die AfD mit gut 11 Prozent im Wahlkreis Jena 1 das landesweit schlechteste Ergebnis. Die Linke triumphierte mit fast 38 Prozent der Stimmen, während die Grünen mit gut 16 Prozent ihr bestes Ergebnis in ganz Thüringen erzielten. Bei der Europawahl Anfang Juni schaffte die AfD in Jena gut 14 Prozent, das Bündnis Sahra Wagenknecht und die progressiv-liberale Kleinpartei Volt konnten aber deutlich stärker zulegen.

Für das auffällige Wählerverhalten gibt es auch hier keine einfachen Erklärungen, aber reichlich Erklärungsmöglichkeiten: Mit einem Bruttoinlandsprodukt von mehr als 76.000 Euro je Erwerbstätigen lag Jena 2022 unter dem bundesweiten Durchschnitt, belegte in Thüringen aber Platz zwei aller Landkreise und kreisfreien Städte. Die Einwohnerzahl fiel in den Jahren nach der Wende unter die Marke von 100.000, kletterte in den Folgejahren gegen den landesweiten Trend aber auf mehr als 110.000 und damit auch über das Niveau von 1992. Fast jeder Fünfte ist Student. Rund ein Drittel der in Jena sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verfügt über einen Hochschulabschluss – das ist deutschlandweit Spitze.

„Ausgründen, wachsen, ausgründen“

Der Strukturbruch nach der Wiedervereinigung traf auch Jena hart. Auf den Verlust von Tausenden Arbeitsplätzen in den Be­trieben des ehemaligen Kombinat Carl Zeiss folgte aber eine Trendumkehr, die eng mit dem Namen Lothar Späth verbunden ist. Der ehemalige CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg über­nahm 1991 die Führung der aus Carl Zeiss hervorgegangenen Jenoptik, führte das Unternehmen später an die Börse und lockte Investoren nach Jena. „Ausgründen, wachsen, ausgründen“, beschreibt Ober­bürgermeister Nitzsche den in Jena etablierten Wachstumsmotor.

Jenoptik ist bis heute eines der wenigen börsennotierten Unternehmen aus Ostdeutschland, und Unternehmenschef Stefan Träger, der seinen Vertrag gerade bis 2028 verlängert hat, ist einer der wenigen Vor­standsvorsitzenden mit einer ost­deutschen Biographie an der Spitze eines Konzerns aus der Dax-Familie. Er macht sich schon länger Sorgen um die Attraktivität des Standorts für Fachkräfte aus dem Ausland und hat mit Jenoptik die Initiative „Bleib offen“ gestartet. „Vielleicht hätten wird das früher machen sollen“, sagt Träger, der 2017 nach vielen Jahren im Ausland in seine Heimatstadt zurückkehrte, die Führung von Jenoptik übernahm und merkte, dass die politische Landschaft ins Rutschen gerät.

Statt in dieser Landschaft nach Inseln zu suchen, sollte man den Trend im Auge behalten, sagt der Soziologe Axel Salheiser, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Vom Narrativ über helle Flecken auf der dunkelblauen politischen Landkarte hält er genauso wenig wie von der Erzählung über eine Dichotomie zwischen West und Ost. Salheiser mahnt: „Es gibt nachholende Entwicklungen, und wenn die demokratischen Parteien der Mitte keine Pro­blemlösungen anbieten, darf man sich nicht wundern, wenn die AfD demnächst auch in Westdeutschland das Niveau erreicht, das sie im Osten bereits erreicht hat.“

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