Thomas Heise: Menschen zum Sprechen kriegen, die dasjenige Sprechen nicht gewohnt sind

Um zu verstehen, was für ein Mensch der Dokumentarfilmemacher Thomas Heise war, ist unter den vielen Geschichten, die sich über ihn, seine Filme und seine Arbeitsweise erzählen ließen, diese ganz hilfreich. Sie spielt in den 1980er-Jahren, in denen Heise eigentlich keine Filme machen durfte, weil er von der Filmhochschule der DDR in Potsdam-Babelsberg abgegangen war, um seinem Rauswurf zuvorzukommen. Arbeit fand er damals unter anderem bei der Staatlichen Filmdokumentation der DDR. Das war eine Art Bad Bank des realexistierenden Sozialismus; dokumentiert werden sollte das Leben in der DDR fürs Archiv, um diese Szenen über die Schwierigkeiten im Alltag als Material für später zu sichern.

Heise machte für die Staatlichen Filmdokumentation zwei Arbeiten. Das Haus (1984/2001), das an sieben Tagen die Routine zwischen Behörde und Bürger im Rathaus von Berlin-Mitte durchdekliniert (Wohnungsvergabe, Standesamt, Jugendamt und so weiter), und Volkspolizei (1985/2001). Dafür wollte Heise in dem Revier in der Brunnenstraße in Berlin-Mitte drehen, das in einem alten Wohngebäude residierte. Dem Major von der Volkspolizei, der die Genehmigung erteilen sollte, schwebte dagegen eine neue, repräsentativere Dienststelle im Bezirk Lichtenberg vor, in dessen Neubaublocks zudem die solideren Charaktere zu erwarten waren. Der kaum 30-jährige Heise bestellte den Major daraufhin morgens um 8 Uhr in die Räume der Staatlichen Filmdokumentation am Rosenthaler Platz, zwei Stunden, bevor der Betrieb dort losging; er hatte sich einen Schlüssel besorgt, um hinter einem Schreibtisch, der nicht seiner war, dem Plan mit dem Revier in der Brunnenstraße Überzeugungskraft zu verleihen – etwa mit dem Hinweis, er könne hier jetzt auch direkt den Innenminister anrufen. Was nicht stimmte, aber Wirkung zeigte.

Die beiden Filme stießen bei der Abnahme auf wenig Gegenliebe, weil sie trotz der dürftigen Mittel eine Form hatten, die dem angedachten Abfilmen entgegenstand. Die Arbeiten landeten aber wie vorgesehen im Archiv; ihre Vernichtung wäre bei der Planerfüllung negativ zu Buche geschlagen. Es brauchte nach 1990 dann noch zehn Jahre, um sie dort wieder herauszuholen (mittlerweile: Bundesarchiv) und in das Werk von Thomas Heise zu integrieren. Zwischendurch hatten die Rechteinhaber die Filme als „Klammermaterial“ für andere Dokumentationen verkauft, wo Heises Bilder aus Volkspolizei plötzlich als Ausschnitte aus einem Stasi-Schulungsfilm firmierten.

In dieser Geschichte steckt alles, was Thomas Heise als Filmemacher ausgemacht hat: die Cleverness, auch unter widrigen Umständen an den eigenen Sachen arbeiten zu können; die Fähigkeit, mit einfachen Mitteln eine wiedererkennbare Klarheit in der Form zu erreichen; und ein Bewusstsein fürs Material, um ein Werk zu schaffen, auf das immer wieder zurückgekommen werden kann – weil in ihm die deutsche Geschichte des langen 20. Jahrhunderts aufgehoben ist wie in keinem anderen des deutschen Dokumentarfilms: Krieg und Vernichtung, Repression und Gewalt.

Was so groß und abstrakt klingt, war bei Heise immer konkret. Von außen betrachtet mag sein letzter Film Heimat ist ein Raum aus Zeit von 2019 wie das Inbild eines weihevollen Kunstwollens erscheinen, über das sich smarte US-amerikanische Komödien lustig machen könnten: 220 Minuten lang werden zu Schwarz-Weiß-Aufnahmen Briefe vorgelesen.
Aber dann zeigt dieser Film klug ausgewählte Bilder von heute, durch die sich konzentriert auf die Geschichte von Heises Familie hindurch blicken lässt. Da wird die formalisiert-höfliche Praxis des dating life von Großvater Wilhelm, der nach einem Urlaub im Zillertal 1922 von Reisebekanntschaften deren in Berlin lebender Schwester Edith „mündlich“ Grüße bestellen will („Sehr geehrtes gnädiges Fräulein“), etwa zu Aufnahmen einer Aprés-Ski-Sause in einem Tanzschuppen namens Krocha-Alm mit runtergedimmtem Bass und Schuhen in der Luft vorgelesen.

Ein Resonanzraum der Zärtlichkeit

Oder es ist, wenn auf der Tonebene Ediths Eltern per Brief in die Hochzeit einwilligen, ein junges Liebespaar zu sehen, das sich küsst vor den Stufen hinauf zum Gleis, tändelt, sich trennt, sie geht die Stufen hoch, er in Richtung Kamera ab, dabei sich mehrfach nach ihr umschauend. Beides für sich genommen, der Brief wie das anonyme Liebespaar, wäre banal, zusammen montiert ergibt sich eine berührende Szene – das zufällig aufgenommene Bild schafft einen Resonanzraum der Zärtlichkeit für die antiquiert wirkende Sprache der Briefe.

Die jüdische Familie der Wiener Großmutter Heises hat den Holocaust nicht überlebt, und auch dafür hat Heimat ist ein Raum aus Zeit eine ungemein prägnante Form gefunden. Gut 25 Minuten fährt die Kamera die von den Nazis penibel geführten Deportationslisten ab, während die Briefe von immer größeren Schikanen erzählen, bis der letzte mit dem lapidaren Satz „Ich reise heute“ endet, wenn die alphabetische Ordnung der Listen bei den Namen der Verwandten angekommen ist.

Man kann das suspense nennen und die Korrespondenzen danach comic relief, und beides spricht für dramaturgisches Geschick: Dass auf das Grauen Entlastung folgt, wenn Heises Mutter mit einem sehr stürmischen Udo aus Mainz schreibt, was auch deshalb ironisch ist, weil es Thomas Heise, der diese Texte liest, nicht gegeben hätte, wäre aus dem Techtelmechtel etwas geworden.

So aber wird Thomas 1955 als Sohn von Rosemarie und Wolfgang Heise in Ostberlin geboren, sie Romanistin, er Philosoph an der Humboldt-Universität, beide eng befreundet mit dem Dramatiker Heiner Müller, der für den Sohn eine zweite Vaterfigur war, auch weil der eigene schon 1987 starb. Müller ließ Thomas Heise in den 1990er-Jahren am Berliner Ensemble inszenieren, wo Heise, der knurrig sein und unnahbar wirken konnte, vor allem mit Jugendlichen arbeitete (etwa Tom Schilling, Lilly Marie Tschörtner, Lena Lauzemis), die er ernst nahm und prägte.

Über Heiner Müller war Heise noch zu DDR-Zeiten auch an eine VHS-Kamera gekommen. Die wurde aus Westberlin in den Ostteil geschmuggelt, Heise sollte damit Proben zu einem Müller-Stück aufnehmen, die wiederum im Westen zu einer Fernsehdoku über dissidentisches Künstlertum zusammengeschnitten worden wären. Daraus wurde nichts, weil Heise das Gerät „enteignete“ (wie er das selbst nannte). Um fortan damit drehen zu können in einer Zeit, in der Zugang zu Filmtechnik außerhalb der staatlichen Defa-Studios, vorsichtig gesagt, schwierig war.

Um zu verstehen, was für ein Mensch der Dokumentarfilmemacher Thomas Heise war, ist unter den vielen Geschichten, die sich über ihn, seine Filme und seine Arbeitsweise erzählen ließen, diese ganz hilfreich. Sie spielt in den 1980er-Jahren, in denen Heise eigentlich keine Filme machen durfte, weil er von der Filmhochschule der DDR in Potsdam-Babelsberg abgegangen war, um seinem Rauswurf zuvorzukommen. Arbeit fand er damals unter anderem bei der Staatlichen Filmdokumentation der DDR. Das war eine Art Bad Bank des realexistierenden Sozialismus; dokumentiert werden sollte das Leben in der DDR fürs Archiv, um diese Szenen über die Schwierigkeiten im Alltag als Material für später zu sichern.

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