Der Autor als Beobachter humanoider Mäuse: Lukas Rietzschel adaptiert am Schauspiel Leipzig Tschechow und debütiert mit „Der Girschkarten“ in der Komödie. Mit zwei Figuren landet er Volltreffer – warum der Abend trotzdem ein Versuch bleibt
Lisa-Katrina Mayer (vorn), Katja Gaudard und Niklas Wetzel in der „Der Girschkarten“
Foto: Rolf Arnold
Man war voller Erwartung, als der Schriftsteller Lukas Rietzschel, bekannt geworden mit seinem Roman Mit der Faust in die Welt schlagen, in diesem Frühjahr bekundete, „fertig“ zu sein mit der ihm abverlangten Rolle als nachwendegeborener Ost-Erklärer. Nunmehr wolle er sich auch im heiteren Genre versuchen. Der Versuch ist nicht strafbar.
So entstand im Auftrag des Schauspiels Leipzig Der Girschkarten, eine Adaption von Tschechows Klassiker Der Kirschgarten. Ein gern gespielter Stoff, den man durchaus gelungen ins Heute transponieren kann, wie Armin Petras’ Inszenierung Tesla, die Spree und der Kirschgarten am Staatstheater Cottbus im Mai bewies.
Der 31-jährige Rietzschel aber erreicht solchen Biss nicht. Das gelegentliche Glucksen im Publikum deutete weniger auf spontane Heiterkeit als auf Einordnungsversuche hin. Was Wunder, handelt doch schon das Original vom Verlust der gewohnten Ordnung, und das wird bei Lukas Rietzschels permanenten Anspielungen auf die Absurditäten einer makaber lächerlichen neuen Welt nicht besser.
„Der Girschkarten“ spielt irgendwo in einem Dörfchen
Der Autor übernimmt den Rahmen eines Familientreffens, bei dem über das Schicksal des vertrauten Hauses mit Kirschgarten beraten wird. Er vergegenwärtigt und seziert und extemporiert dabei oft wirklich erheiternd. Nach eigenem Bekunden karikiert er dabei die Unfähigkeit, überhaupt zu einer Entscheidung zu gelangen, und die Flucht in „Früher war alles besser“-Beschwörungen.
Der Girschkarten spielt irgendwo in einem Dörfchen nach Ausbruch des großen Fortschritts. Das verfallende Haus steht vierspurigen Straßen im Wege und der Errichtung eines Supermarkts. Die verborgene Stückabsicht ließe sich im schönsten Konservatismus als Suche nach dem immer Gültigen unter den Bergen von Wohlstandsmüll vermuten. Das aber beginnt man erst langsam zu ahnen. Denn Rietzschel erzählt zunächst relativ trocken in spannungsarmen Dialogen. Sprachartistik und geschliffene Pointen sind ohnehin nicht seine Sache, und sein uneitler, ernsthafter Charakter steht Comedy-ähnlicher Effekthascherei auch entgegen.
Mit zwei rätselhaften Figuren sind ihm aber Volltreffer gelungen. Die scheinbar nicht zurechnungsfähige Großmutter könnte die verfremdete Tschechow’sche Ranjewskaja sein: Hinreißend erscheint Katja Gaudard als überirdischer weißer Engel oder schlitzohrige Hauseigentümerin. Sie narrt ihre zum Verkauf drängenden Kinder und hat das Haus längst verschenkt – an eine mysteriöse Nachbarin (Tilo Krügel) und Betreiberin des letzten Tante-Emma-Ladens nebenan, eine androgyne Erscheinung in Slow Motion mit Bocksfüßen.
„Der Girschkarten“: Lukas Rietzschel beobachtet distanziert humanoide Mäuse
Eine Konstellation wie für ein Theatrum Mundi im Dorfgartenformat. Paradoxerweise könnte das sterile Krankenhausweiß der Bühnenbox, die sich Intendant, Regisseur und hier auch Bühnenbildner Enrico Lübbe ausgedacht hat, sogar dazu passen. Nur keimt bald der Verdacht, es illustriere die Position des Autors. Der zunehmend philosophierende Rietzschel beobachtet distanziert sozusagen humanoide Mäuse in einem Labortest und verfällt dabei in homerisches Gelächter. Als fände er sich vor allem in der unerschütterlich über den Gewöhnungen und Gewöhnlichkeiten stehenden Großmutter wieder.
Womöglich verhindert diese Distanz eine mitreißende Komödie. Zu oft werden Predigtmonologe und Kurzvorlesungen eingeschoben, wenngleich zuweilen hörenswerte, wie die über die Kulturgeschichte des Gartens. Nach einem Notizbuch rufen eher beiläufige Sätze wie der, die größte Arbeit bestünde in der Herstellung des Stillstands. Dass „alles Kampf ist“, wusste hingegen schon Heraklit. Richtung Finale der 100 Minuten sinniert man zunehmend über den ominösen schwarzen Kabelsalat in der Ecke der weißen Bühnenbox.