Theater | Intendantin Marie Johannsen am Rheinischen Landestheater: Im Westen welches Neuss

Lupo nickt, zumal die Aufforderung dazu mit einem Stück Karotte unterfüttert wird. Und was braucht der perfekt gestriegelte, irische Vollblüter schon mehr für sein Glück? Ein Pferdehof nahe Neuss, ringsum Wiese, und als wäre das noch nicht genug der Harmonie, ergänzt Marie Johannsen mit Blick auf Lupo: „Ein Nein bekommen wir einfach nicht hin.“ Während die aktuell jüngste Intendantin einer deutschen Bühne, die just die Leitung des Rheinischen Landestheaters Neuss übernommen hat, ihr Pferd streichelt und belohnt, entwickelt sich die Szene mehr und mehr zur Metapher: auf einen Führungsstil, der auf Zuhören und Empathie beruht.

Er mag zum einen in Johannsens zugewandtem Wesen begründet sein, zum anderen resultiert er sicherlich aus einschlägigen Negativerfahrungen der vergangenen Jahre. Bevor die 33-Jährige ihr Amt in Düsseldorfs Nachbarstadt antrat, erlebte sie zuletzt als Dramaturgin hautnah die fast schon kriegerischen Auseinandersetzungen im Staatstheater Wiesbaden mit. Finanzskandale und schonungslos in der Öffentlichkeit ausgetragene Ego-Kämpfe innerhalb des Hauses und mit dem Ministerium führten das Theater in seine wohl tiefste Krise. Nach diesen testosterongesteuerten Hahnenkämpfen verfügt sie über ein dickes Fell und kann mit leichter Ironie behaupten: „Man hat also alles schon im Worst Case erlebt. Da schockt einen nichts mehr.“

In Neuss sollte alles anders werden, auch wenn die Startbedingungen nicht gerade rosig ausfielen. Gerade einmal 60 Prozent Auslastung, ein ziemlich eng bemessenes Budget und eine insgesamt triste Atmosphäre übernahm Johannsen zu ihrem Antritt. Sie brachte ein eingespieltes Team mit, darunter Dirk Schirdewan als Stellvertreter und Stefan Herfurth als geschäftsführender Dramaturg, mit denen sie auf deutlich niedrigere Hierarchien setzt. Sie ist immer da und moderiert, wo zuvor nur noch wenig miteinander gesprochen wurde. Auch die Potenziale ihrer Angestellten will sie voll ausschöpfen, indem sie viele Gespräche führt. Eine typische Szene, die man mit Johannsen erlebt: Nach einer Premierenfeier schlägt eine altgediente Kassenmitarbeiterin ihr vor, sie könne sich mehr in der Besucher:innenaquise engagieren. Und die Intendantin signalisiert dafür ehrliche Offenheit. Why not? Schließlich soll Leben in die Betonbude. „Ich wollte keine Hospizintendantin werden“, ergänzt sie. Direkt in ihren ersten Tagen hat sie das riesige Foyer mit Pflanzen und gemütlichem Second-Hand-Mobiliar ausstattet und zu einem einladenden Treffpunkt in der Stadt verwandelt.

Neben dem Schützenverein

Was die Programmatik anbetrifft, fährt sie dennoch keinen Kuschelkurs. So kommt für sie zum Beispiel Faust nicht infrage. Aufgewachsen in einem bildungsbürgerlichen Haushalt in Stuttgart, kennt sie derartige Klassiker, auf die sie einen entschieden feministischen Blick wirft, von klein auf. Goethes Held, erweckt aus den Untiefen einer patriarchal gefärbten Kulturgeschichte, stellt für sie primär einen Frauenschänder dar. Nur wie sieht es da mit den Protagonisten in Die Schöne und das Biest oder Mozarts Die Zauberflöte aus, die sie beide auf ihrem ersten Spielplan platziert hat? Gewiss würden die Männerfiguren darin neu interpretiert, Näheres dazu lässt Johannsen aber offen. Wichtig erscheint ihr allerdings ein Punkt: Gerade das durch Disney berühmt gewordene Märchen erzähle „für Kinder und nicht wie Goethes Faust über ein Kind“ – gemeint ist Margarete.

Obwohl sie Spielzeitmotti hasse, haben die in den kommenden Monaten zu sehende Werke einiges gemein. Da ist zum einen das Thema der Identität. Ferdinand Schmalz‘ Nibelungen-Überschreibung Hildensaga stärkt die Frauen, die in der ursprünglichen Sage allenfalls als Spielbälle machtversessener Machos dienen. Mit der Uraufführung von Sonne und Beton, fußend auf dem gleichnamigen und autobiografischen Coming-of-Age-Roman von Felix Lobrecht, beleuchtet Johannsen das Aufwachsen Jugendlicher in einem Problembezirk, die sich (mit kriminellen Umwegen) auf die Suche nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft begeben. Als amüsant dürfte sich ein Auftragsstück aus der Feder des für seine Komik prominenten Autors David Gieselmann erweisen. Mord im Schützenverein lautet der Titel, der letzthin Selbstbild und Tradition der rheinischen Kleinstadt reflektiert und charmant auf die Schippe nehmen soll. Wer in Neuss mitmischen will, kommt an den alljährlichen Schützenfesten nicht vorbei. Dort wirkt das Vitamin B der Kommunalpolitik, dort wird über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit entschieden. Sogar die Zeitstruktur der Stadt richtet sich nach dem Ritus, zeigt doch die Rathausuhr exakt die Anzahl der Tage und Stunden bis zum nächsten Schützenfest an. Buchstäblich kann man hier erfahren, wie die Kommune tickt.

Ein Stück weit im Rhythmus des örtlichen Publikums zu gehen, ist für die Spielplangestaltung sicherlich von Vorteil. Allerdings erzeugt Johannsen auch neue Vibes, die provozieren und zum Widerspruch anregen: „Wenn jemandem mein Programm zu 100 Prozent gefällt, habe ich etwas falsch gemacht. Denn dann wäre das nur Theater für diese eine Person und nicht für all die anderen. Ich möchte hier wirklich Vielfalt leben.“ Dabei geht eine inhaltliche Neuaufstellung für die Theatermacherin mit einer grundlegenden Veränderung eingefahrener Strukturen einher. Heute sei es so, betont Johannsen, dass die meisten Engagements an Bühnen – von Schauspiel bis zu Dramaturgie – primär über persönliche Kontakte zustande kämen. Manche würden von Premierenfeier zu Premierenfeier tingeln, um sich anzubiedern. Die Qualifikation ist da oft nebensächlich, insbesondere Regiestellen will die Intendantin zukünftig deshalb verstärkt ausschreiben. Dies könnte in der Tat fairer sein und zu einem produktiven Ideen-Wettbewerb führen. Denn, ergänzt sie, „wenn wir uns anhaltend nur um uns selbst drehen, nur in unseren abgekapselten Blasen verbleiben, ist das ein Todesurteil für das Theater“.

Dicke Bühnenbretter bohren

Sich immer wieder neu erfinden, wachsam sein, lieber der Utopie als der Dystopie den Vorzug zu gewähren – darin scheint das Erfolgsrezept der 1991 in Balingen geborenen Theatermacherin zu bestehen. Im Gespräch sprudeln die Ideen nur so aus ihr heraus, während sie sich immer wieder ihr wuscheliges Haar ordnet. Als ließe sich nur auf diesem Wege Ordnung in das Kopffeuerwerk bringen. Jenseits zündender Ideen erfordert ihr Stellenprofil aber auch Routine und Organisationstalent. Ihre Biografie scheint dies herzugeben. Nachdem sie Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und später noch Kulturmanagement studierte, machte sie Station als Dramaturgin in Detmold, dann Neuss und Wiesbaden, um schließlich wieder nach Neuss zurückzukehren. Dann allerdings mit einem weiteren Horizont. Insbesondere am Hessischen Staatstheater betreute sie neben Inszenierungen in der Schauspielsparte auch Opernaufführungen.

Die wohl größte Herausforderung ihres neuen Amtes stellt indes das Verhandlungsgeschick dar. Als Leiterin einer Landesbühne müssen sich Planung und Logistik – jenseits der Aufführungen im Haupthaus – vor allem auf Außenspielstätten einstellen, was natürlich das Budget belastet. Darüber gilt es mit mehreren Stellen ins Gespräch zu kommen, da die Kommune Neuss und das Land die Finanzierung zu unterschiedlichen Teilen absichern. Will die Ministerin sparen, muss die Intendantin sich im Tauziehen zwischen den Mäzenen üben. Die richtige Balance ist von Nöten: Auf der einen Seiten niemanden verschrecken, auf der anderen entschieden auftreten und empfindlich Druck aufbauen. Als die Tariferhöhungen für die Beschäftigten umzusetzen waren, musste sie dicke Bretter bohren, damit die entstehende Etatlücke geschlossen wird. Nur so kann man die Kernaufgaben einer Landesbühne erfüllen. „Dass wir unser Programm auf unterschiedlichen Spielstätten anbieten, ist sicher nicht immer einfach, zumal beispielsweise ein Bühnenbild in diversen Stadt- und Mehrzweckhallen funktionieren muss“, fasst Johannsen zusammen. „Aber das ist es uns wert. Wir müssen in die Fläche gehen und dadurch Theater barrierefrei zeigen. Wir haben eine Verantwortung, da gerade zahlreiche Schülerinnen und Schüler in unserem Landesbühnenbetrieb ihre allererste Theatererfahrung machen. Und die prägt immens.“ Und wer wäre besser geeignet, diesen Funkenschlag zu erzeugen, als eine junge und zugleich erfahrene Frau mit Visionen?

Sich inmitten der hohen Bühnendichte von Ruhrgebiet und Rheinland zu bewähren, wird ihr einiges abverlangen. Dafür hat ihr die Stadt Neuss bereits einen Vertrauensvorschuss gegeben. Die schon steigenden Besucher:innenzahlen deuten an, dass er sich auszahlen dürfte.

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