Amir Tibon überlebte den 7. Oktober 2023 im Kibbuz Nir Oz. In „Die Tore von Gaza“ erzählt er davon. Nuran David Calis eröffnete mit diesem Sachbuch seine Intendanz am Salzburger Landestheater. Wie funktioniert so ein Text auf der Bühne?
Seinen Text hat Amir Tibon gezielt nicht auf seiner Muttersprache Hebräisch, sondern auf Englisch verfasst – für die Welt, wie er bei einer Veranstaltung des Salzburger Landestheaters erklärte. Im Bild: Aaron Röll und Larissa Enzi
Foto: SLT/Tobias Witzgall
Vorab eine Buchempfehlung: Auf gut 400 Seiten schildert Amir Tibon in Die Tore von Gaza den Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 aus eigenem Erleben. Der 1989 geborene Journalist wohnte mit seiner Frau und zwei kleinen Töchtern damals im Kibbuz Nahal Oz unweit der Grenze zum Gazastreifen. Um 6.29 Uhr erwachten die Eltern zu ersten Geräuschen der Invasion und zogen sich zu ihren noch schlafenden Kindern in den Schutzraum ihres Hauses zurück.
Die packende Schilderung dieses schrecklichen Tages und seiner Folgen ergänzt Tibon um einen historischen Abriss des Konflikts in der Region, dessen Wurzeln in die Zeit vor der Gründung des Staates Israel zurückgehen. Seine Perspektive ist unweigerlich die eines Israelis und linken Zionisten, zudem eines Zeitzeugen, der mehr oder weniger zufällig den Terror überlebte. Doch der Text ist frei von Hass und Vorurteilen. Gezielt hat er ihn nicht auf seiner Muttersprache Hebräisch, sondern auf Englisch verfasst – für die Welt, wie er bei einer Veranstaltung des Salzburger Landestheaters erklärte.
Anlass für das Gespräch war die Uraufführung der Bühnenversion von Die Tore von Gaza durch den neuen Schauspieldirektor des Landestheaters, Nuran David Calis. Ihm war es so wichtig, als erste Regiearbeit im Amt diesen schon im Herbst 2024 erschienenen Text zu inszenieren, dass er dafür eine besondere Spielstätte in Anspruch nahm: die Bühne 24, auch bekannt als das traditionsreiche Salzburger Marionettentheater.
Die Frage nach der Eignung eines erzählenden Sachbuchs für die Bühne blieb für Calis dabei augenscheinlich im Hintergrund. Seine Inszenierung zeigt auffällig großen Respekt vor dem Ausgangsmaterial, was Text, Form und Aufbau betrifft. Innerhalb des Ensembles wurden zwar Figuren zugeschrieben – Aaron Röll verkörpert etwa Amir Tibon, Larissa Enzi seine Frau Miri –, aber die Narration zitiert unverändert aus dem Buch und bleibt somit in der Ich-Perspektive des Autors. Gleiches gilt für Britta Bayer und Georg Clementi in den Rollen von Tibons Eltern, die nach kurzem Austausch von Textnachrichten von Tel Aviv aus in die Gefahrenzone aufbrachen: „Mein Vater“, sagt Clementi dann eben über sich.
„Die Tore von Gaza“ von Amir Tibon: Ausharren in der Finsternis
Bühnenbildnerin Anne Ehrlich hat einen begehbaren Würfel entworfen, der sich in zwei Hälften auseinanderziehen lässt, im Inneren Tisch, Bett und Stuhl, schwarz wie Anna Sünkels Kostüme. Die Spieler:innen haben gruselige Pupillen auf ihre geschlossenen Augenlider gemalt bekommen. Während wir hören, wie die Tibons in der Finsternis ausharren und hoffen, dass ihre Töchter nicht die Nerven verlieren, illustriert das restliche Ensemble dies wie taumelnde blinde Seher:innen.
Für die historischen Teile ziehen Enzi und Bayer sprachlich eine Drohkulisse auf, angelehnt an den von Vivan Bhatti gestalteten Sound. Die drei männlichen Schauspieler eignen sich den faktengesättigten Text indes sehr unterschiedlich an: Clementi klingt, als dächte er sich das Gesagte gerade als strategischen Plan aus, Röll, als hielte er im jugendlichen Eifer ein Schulreferat, und Roman Kanonik, als müsse er jemanden dringend überzeugen.
In einer frühen Erklärpassage kritzeln die fünf die transparenten Wände des Würfels mit einschlägigen Begriffen und Zahlen voll. Immer wieder finden sie neue Stellungen für die beiden Würfelhälften und positionieren auch die Livekamera um, deren Aufnahmen auf die rechte Bühnenwand projiziert werden. Das ist technisch nicht nötig, man sieht überall gut hinein. Andererseits kann beim hier verhandelten Thema nicht genug betont werden, wie wichtig eine Mehrzahl an Perspektiven ist.
Dennoch erschöpft sich dieser szenische Zugang bald, auch weil klar wird, dass das Ensemble lediglich die Aufgabe hat, möglichst viel von Tibons Buch zu übermitteln. Als Drama im klassischen Sinne eignet sich dieses trotz aller Spannungsmomente nicht, Calis hat auch nicht versucht, eines daraus zu machen.
Wäre die Vorlage ein Roman, also selbst ein Kunstwerk, könnte eine solche Adaption ohne erkennbares künstlerisches Ziel im ärgerlichen Maße überflüssig anmuten. Hier ist sie verzeihlich. Wer Die Tore von Gaza gelesen hat, wird aus der Inszenierung nichts Neues mitnehmen. Diejenigen aber, die wenig Zeit oder keinen Zugang zum Buch haben, dafür in Salzburg weilen, erhalten dank Nuran David Calis’ Inszenierung einen starken Eindruck von seinen Inhalten.