Über eine Leiter, aus einem silbernen Rohr kommen sie herabgestiegen, die blauen Wesen, eines nach dem anderen. In dieser für sie neuen Zwischenwelt zuckeln sie die riesige blaue Halskrause zurecht, rutschen mit ihren Schuhen quietschend über den Boden dieser Sphäre, irgendwo zwischen Tod und Lebendigsein. Noch wird nicht gesprochen. Allmählich treten diese wundersamen Geschöpfe – hellblaue Haare, blaues Häubchen, Faltenrock, darunter silberfarbene Leggings – näher an die Rampe heran.
Einige schauen misstrauisch, andere verblüfft ins Publikum, als würden sie eine absonderliche Spezies begutachten, ehe gerufen wird: „Wir sind die monopatriden Exkarniker, Loswerfer von Nord-Holstein.“ Bitte wer? Diese monopatriden Exkarniker, erfahren die Zuschauer bald, ernähren sich hauptsächlich von in Borstenrichtung abrupt gerupften Robel-Hühnern nach Burgundidel Art; und sie reproduzieren sich – dank ihrer parallelen Mütter – jeden Dienstag, indem sie einen urliaken Ritus begehen.
Wer an diesem Premierenabend im Theater an der Ruhr in Mülheim einen Sinn sucht, wird ihn sicher finden, irgendwann zwischendurch mal, und dann schon bald wieder verlieren. Die Logozentrismusliebhaber aber sind in der deutschen Erstaufführung von „Das eingebildete Tier“ des französischen Theaterreformers Valère Novarina völlig verloren. Regisseurin Julie Grothgar hebt diesen gewaltigen Text in der Übersetzung von Leopold von Verschuer auf die Bühne; für die aktuelle Spielzeit des Theaters Ruhr unter dem Titel „Utopie“ hätte sie keinen besseren wählen können.
Novarinas Szenen sind labyrinthische Klangwelten in einer Sprache, die von radikalen Neuanfängen durchsetzt ist. Immer wieder tauchen Versatzstücke einer verbrauchten Alltagssprache in Dialogen auf, Kindheitsverse, Erinnerungen an einen allseits ermüdenden Diskursjargon, der sogleich wieder von wilden Wortschöpfungen zerhackt wird. Auch Gendern wird probiert: vom Sellerie zur Sellerin, vom Maulwurf zur Maulwürfelin, die Artischocke und der Artischock.
Die Schauspieler geben sich Novarinas Wuchttext völlig hin
In Deutschland sind Valère Novarinas Texte kaum bekannt; in Frankreich ist der heute Dreiundachtzigjährige eine Ikone des zeitgenössischen Theaters, bescheidener lässt es sich kaum sagen. Mit „L’Acte inconnu“ eröffnete er 2007 auf der großen Bühne im Ehrenhof des Papstpalastes das Festival von Avignon, die Comédie-Française führt seine Stücke seit zwanzig Jahren im Repertoire. Von einem Theater, das sich als moralische oder politische Erklärungsmaschine versteht, will Novarina nichts wissen. In seinem „Brief an die Schauspieler“ schrieb er 1974: „Das Theater ist kein kultureller Sender zur mündlichen Verbreitung von Literaturen, sondern der Ort, wo das Wort stofflich zu den Körpern wieder rausstirbt.“ Sprache ist für Novarina zentral, doch nicht im Sinne eines dramatischen Textes, der vom Schauspieler aufgesagt, vermittelt, interpretiert wird, um eine Handlung voranzutreiben. Sie fungiert für ihn eher als ontologische Urkraft des Theaters – und dem Schauspieler bleibt nichts anderes übrig, als sich ihr zu stellen. „Was ich erwarte, was mich getrieben hat?“, fragt der Theaterreformer da. „Dass der Schauspieler kommt und meinen zerlöcherten Text ausfüllt, drin tanzt.“
Und wie diese zehn Spieler an diesem Premierenabend tanzen! Sie geben sich Novarinas Wuchttext völlig hin, fallen über ihn her – und übereinander. Sie singen, spielen, ringen miteinander und bilden einen Chor (einer tanzt immer aus der Reihe; sondert sich ab oder steht rauchend am Bühnenrand). Die eingebildeten Tiere, die da auf der Bühne gegen den eigenen Tod anhecheln, das sind natürlich die Menschen. „Ja, meine Damen, ja, meine Herren, die Menschheit ist das einzige Tier auf Erden, das sich wehrt, indem es das Hormon der Sprache absondert. Die Sprache ist nicht ein Bruchstück des göttlichen Logos, die Sprache ist ein Hormon“, ruft ein Geschöpf. Behauptet hätten die Menschen, Meister der Sprache zu sein, wo sie doch nur ihr Spielzeug gewesen seien. Zum Schluss fragt eines der Blauwesen, ob es den Anfang seines Romans zitieren darf. Was folgt, ist ein grandioser Monolog endloser dadaistischer Neuanfänge, der nur aufhört, weil irgendwann einer das Licht ausmacht.
Langsam schwebt Sisi in die Bühnenmitte
Doch der Theaterabend ist damit für die Zuschauer noch nicht zu Ende, auch nicht für die Schauspieler, die nach einer vierzigminütigen Suppenpause wieder in gleicher Konstellation die Bühne betreten. Denn es handelt sich um eine Doppelpremiere. „Das eingebildete Tier“ hat laut Programmzettel ein Komplementärstück: „Ein anderes Blau“, frei nach Novalis’ Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“. In enger Zusammenarbeit seien beide Inszenierungen entstanden, sie teilen sich Kostümbild und Bühnenraum (beides umgesetzt von Aleksandra Pavlović). Wieder das Rohr mit Leiter im Hintergrund. Nur steht diesmal Elisabeth von Österreich, sehnsuchtsvoll in blaue Fernen blickend, am mondscheinbedeckten Fenstersims.
Langsam schwebt Sisi in die Bühnenmitte, doch als sie den Mund aufmacht, schallt nur eine tote, computergenerierte Stimme durch den Raum. Das Meer sei eines ihrer (Todes-)Sehnsuchtsmotive, und da taucht es auch schon hinter ihr auf – in Form eines gigantischen Luftkissens. Hier aalen sich bald die Spieler, diesmal nicht alle in Blau, sondern alle in rosa Latexanzügen, sie suchen nach Verbundenheit, finden und verlieren sie. Im Hintergrund läuft ein digitaler Countdown ab – es ist die letzte Lebensstunde dieser Menschen.
Was macht man mit diesen wertvollen Minuten? Die Spieler stimmen ein zartes „In Paradisum“ aus Gabriel Faurés Requiem an, das irgendwann von einem wilden Schwanenseeremix mit harten Elektrobeats abgelöst wird. Hier tanzen jetzt die Latexgestalten wie im Berliner Berghain gegen ihre Angst vor dem Tod an oder hetzten diagonal über den Bühnenboden. Nach Novarinas Textgewalten ist die Sprache in „Ein anderes Blau“ in der Regie von Charlotte Sprenger fast verschwunden. Manchmal entwickeln die Tableaux Vivants dabei eine poetische Kraft, oft jedoch erstarren sie zu klamaukhaften Posen.
Source: faz.net