Manche Menschen gucken Fernsehen, weil dort die Bundesliga läuft, weil man Heizdecken bestellen und sich nachts mit Hitler-Dokus die Träume verderben kann. Nicht Matthias Kalle. Unser Kolumnist guckt Fernsehen, um die Welt zu verstehen – und verrät ab sofort in seiner Kolumne „Kalle guckt„, was man wirklich gesehen haben muss. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 48/2022.
Wenn Sie sich gern Fußball im Fernsehen anschauen, aber
diese Weltmeisterschaft in Katar nicht sehen wollen, werden die kommenden
Wochen schwierig für Sie. Gibt ja genug Gründe, sich das Turnier nicht
anzuschauen – neben den bekannten (die teilweise auch schon gute Gründe gewesen
wären, sich die Weltmeisterschaft vor vier Jahren in Russland nicht
anzuschauen), gehören dazu noch, dass sich das Prinzip Nationalmannschaft
überholt haben könnte und dass der Fußball bei so einem Turnier eher von mittelmäßigem
Niveau ist. Schon ab Januar wird man wieder bessere Spiele im TV sehen können,
jeden Tag, zu jeder Uhrzeit.
Nur jetzt gerade wird eben nirgendwo
sonst Fernsehfußball gespielt wie in Katar. Was also ist mit der fiktionalisierten
Umsetzung des Spiels, den erfundenen Geschichten über den Fußball, die eine
größere Wahrheit über den Sport erzählen könnten als die WM? Die schlechte
Nachricht dazu: Szenen, in denen Fußball gespielt wird, egal ob aus Filmen oder
Serien, sind noch unansehnlicher als das Eröffnungsspiel des Turniers zwischen
Ecuador und Katar, niemand hat sie bisher adäquat inszenieren können. Und
obwohl ich bekanntermaßen nicht verstehe, warum sich Menschen Ted Lasso
anschauen, bin ich mir immerhin sicher, dass es nicht wegen der Fußballszenen
ist.
Auch die Fußballszenen in der
sechsteiligen Miniserie The English Game aus dem Jahr 2020 sind beinahe
lachhaft naiv. Trotzdem ist die Serie eine gute Alternative, um sich mit dem Sport
zu beschäftigen, selbst wenn sie in vielerlei Hinsicht nicht an die Standards
heranreicht, die ansonsten für diese Kolumne gelten. Julian Fellowes hat sich The
English Game ausgedacht, ein Serienschöpfer, der unter anderem
verantwortlich war für das über jeden Zweifel erhabene Downton Abbey. Diesmal
erzählt er, wie der Fußball wurde, was er ist, wobei nur manches historisch
korrekt ist, anderes zusammengerafft oder ausgedacht wurde. Wie man das eben so
macht, um die Wahrheit zu erzählen.
Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Männer. Der eine, Arthur
Kinnaird (gespielt von Edward Holcroft), ist sehr reich, der andere, Fergus Suter (Kevin Guthrie), sehr arm. Sie spielen beide
Fußball, aber damals, in den 1870er-Jahren, ist Fußball ein Sport für reiche
Männer. Ein Hobby, eine Freizeitbeschäftigung, etwas für sogenannte Gentlemen.
Kinnaird ist Kapitän der Old Etonians, einer Mannschaft für Eton-Absolventen.
Suter, am Ball ein Genie, wechselt mit seinem Kumpel Jimmy Love (James Harkness) zum Verein der
Arbeiterstadt Darwen. Ein Fabrikbesitzer zahlt den beiden Geld dafür, Fußball zu
spielen, ein ungeheuerlicher Vorgang, der gegen die Regeln des englischen Verbands
verstößt.
Aus dieser Lage ergibt sich der
zentrale Konflikt von The English Game, die Rivalität zwischen Kinnaird
und Suter, und daran geknüpft die heute wieder zeitgeistige Frage, wem der
Fußball eigentlich gehört. Erst als sich nach langem Ringen auch Kinnaird dafür
einsetzt, dass Männer professionell Fußball spielen dürfen, wird die Übermacht
der Reichen in seinem Sport gebrochen. Wenn man so will, erzählt The Englisch
Game also eine paradoxe Geschichte: Erst als man Menschen fürs
Fußballspielen bezahlen durfte, wurde der Fußball einer kleinen Elite aus den
Händen gerissen und zum Sport für alle. Zugleich gilt: Der moderne Fußball, wie wir ihn heute
kennen und wie er in grauenhafter Vollendung gerade bei der Weltmeisterschaft
zu sehen ist, entstand also aus einer Revolution von unten.
Historisch erzählt die Serie das nicht
ganz sauber, es gibt zudem Handlungsstränge, die zu melodramatisch geraten sind
(schlechte Väter, uneheliche Kinder). In den letzten zwei Folgen aber nimmt das Tempo
zu, der Konflikt verschärft sich und The English Game findet ins Spiel.
Zur Ausnahmeerscheinung wird die Serie dadurch nicht mehr, aber zur soliden Erzählung
über den Moment, in dem sich der Fußball für immer verändert hat.
Eine der schönsten Erzählungen über den Sport stammt
übrigens von dem nordirischen Spieler Danny Blanchflower. Sie ist leider keine Fernsehserie,
besteht aber aus vier Sätzen, die auch für das Fernsehen gelten sollten: „Der
große Trugschluss ist, dass es zuerst und zuletzt ums Gewinnen geht.
Darum geht es nicht. Es geht um Ruhm. Es geht darum, Dinge mit Stil und Schwung
zu tun, rauszugehen und die anderen zu schlagen und nicht darauf zu warten,
dass sie vor Langeweile sterben.“
„The English Game“ ist auf Netflix abrufbar.