#TexasText/Jamal Tuschick | Kunstvolle Verfehlung

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„Zar Nikolaus I. konnte sagen: Guckt mal, wir haben Puschkin. Stalin konnte sagen: Guckt mal, wir haben Schostakowitsch. Hätte es keinen Westen gegeben, Schostakowitsch wäre im Gulag gestorben.“ Michail Schischkin in einem SZ-Interview mit Moritz Baumstieger, Quelle

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„Die Quantentheorie ist so ein wunderbares Beispiel dafür, dass man einen Sachverhalt in völliger Klarheit verstanden haben kann und gleichzeitig doch weiß, dass man nur in Bildern und Gleichnissen von ihm reden kann.“ Werner Heisenberg, Quelle

Bürgerlicher Fußgänger

Eine maritime Nebelszene im Kopenhagener Fælledparken eröffnet die Novelle. Nach Goethe kennzeichnet „eine unerhörte Begebenheit“ das Erzählformat. Der emeritierte Historiker Helstedt hinkt lediglich dem Takt seiner Gewohnheiten hinterher. Obwohl niemand ihn erwartet, erlebt er seine Heimkehr an einem Frühlingstag im Jahr 1925 als Verspätung. Er passiert das 1921 von Niels Bohr am Blegdamsvej gegründete Institut for Teoretisk Fysik, wo der Institutsgründer seine „Bohr-Festspiele“ abhält.

„Niels Bohrs bahnbrechendes Atommodell bildete die Grundlage für unser Verständnis des Aufbaus der Welt.“ Quelle

Der Autor erzählt das sparsamer. Er nennt keine Koryphäe bei ihrem Namen. Präzise bezeichnet er die Topografie.

Christian Haller, „Sich lichtende Nebel“, Novelle, Luchterhand, 17,99 Euro

Beobachtet wird der bürgerliche Fußgänger von einem (im Text namenlosen) deutschen Gastdozenten. Hinter dem Physiker liegen „Stunden anstrengender Diskussionen um das Atommodell seines Mentors“. Das Brainstorming regt den Beobachter dazu an, in Irritationen, die sich aus den Licht- und Witterungsverhältnissen ergeben, Helstedt taucht immer wieder im Dunklen unter, um im nächsten Laternenlichtkreis wieder aufzutauchen, wenigstens die Präludien einer zukünftigen Illumination zu erahnen.

„Der junge Wissenschaftler spürte, dass diese … Beobachtung in einer Verbindung zu den besprochenen … Problemen stand.“

„So hatte Goethe von Lord Byron gesagt, dass ihm die Welt durchsichtig sei und dass ihm ihre Darstellung durch Antizipation möglich.“ Johann Peter Eckermann 1824

Bei dem Spitzfindigen handelt es um einen Asthmatiker, der mit dem fürchterlichsten Heuschnupfen leben muss. Er heißt Werner Heisenberg und hat soeben die Quantenmechanik mathematisch formuliert. In zwei Jahren wird der dann fünfundzwanzigjährige Sohn eines Universitätsgelehrten (selbst schon als Lehrstuhlinhaber) sowie als Nobelpreisträger in spe die nach ihm benannte Unschärferelation nachschieben.

Im Jetzt des Geschehens erscheint Bohrs Meisterschüler als einer, dem im Dunstkreis des Physik-Doyens der Kopf raucht.

Bohrs Novellen-Alter-Ego schildert Haller als Berserker.

„Forschung bedeutete ihm keine Tätigkeit, sie war Existenz, eine Art, das Leben zu führen.“

Haller übernimmt im Weiteren einen historisch verbürgten Helgoland-Aufenthalts seines Helden.

„Am 7. Juni 1925 fuhr Heisenberg nach Helgoland, um sich von einem schweren Heuschnupfenanfall zu erholen. Dort vollendete er die quantentheoretische Berechnung des anharmonischen Oszillators mit der Bestimmung der noch fehlenden Bewegungskonstanten.“ Quelle

Kongeniales Entgrenzungserlebnis

Aber da ist auch noch Helstedt. Dessen kunstfigürliche Silhouette taucht im Gegenlicht des handfest Verbürgten ebenso auf und ab wie der eingangs beobachtete, vermeintlich nur in den Lichtquellen existierende Spaziergänger. Helstedt wartet einem Freund gegenüber mit einem kongenialen Entgrenzungserlebnis auf, einem „Durchbrechen der gewohnten Wahrnehmung“.

Eine unversehens molekulare Perspektive … „ein Strom von Lichtteilchen“ … verschaffte ihm einen Rausch der Sinne in der Art einer halluzinogenen Ekstase.

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Helstedt vertraut sich der pensionierten, von ihm lange heimlich verehrten/observierten Augenärztin Linn an. Ihr Entgegenkommen, dem eine diskrete Zurücknahme der Zugänglichkeit folgt, quittiert er mit komplizierten Manövern. Bis zum Schluss erfährt Helstedt nichts von seiner Rolle als Subjekt einer „unerhörten Begegnung“.

Leicht ließe sich die Spielanordnung als kunstvolle Verfehlung deuten. In einem anderen Bezugsrahmen ergäbe sich die „unerhörte Begegnung“ im Verhältnis zwischen dem Dozenten und seinem akademischen Gastgeber. Die Beziehung zwischen dem bahnbrechenden Dänen und dem deutschen Überflieger war vielleicht nie frei von jenen Spannungen, die in einem unaufgeklärten Vorgang mündeten, der zweifellos auch als „unerhörte Begegnung“ funktioniert hätte. Im Herbst 1941 besuchte Heisenberg seinen Lehrer im okkupierten Kopenhagen. Bohr war im antifaschistischen Widerstand, Heisenberg, einst Freicorps-Kombattant, war das nicht. Die beiden führten ein „Gespräch unter vier Augen. Was genau besprochen wurde, ist bis heute nicht geklärt – und gehört zu den größten Rätseln der Wissenschaftsgeschichte. Unzählige Bücher und sogar ein Theaterstück beschäftigen sich mit dem Treffen“. Quelle

Nach der Aussprache ging Bohr davon aus, dass deutsche Wissenschaftler:innen dazu in der Lage waren, eine Atombombe zu bauen.

Aus der Ankündigung

Kopenhagen 1925: Ein Mann taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet wieder im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Den Beobachter dieser Szene, Werner Heisenberg, führt sie zur Entwicklung einer Theorie, die im weiteren Verlauf ein völlig neues Weltbild schaffen wird: die Quantenmechanik. Der Mann im Dunkel selbst hingegen weiß nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat – er versucht, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten und seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Christian Haller, der diese beiden durch den Zufall verknüpften Lebenslinien weitererzählt, macht daraus ein hellsichtiges literarisches Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt.

Zum Autor

Christian Haller wurde 1943 in Brugg, Schweiz, geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der abschließende Teil seiner autobiografischen Trilogie erschienen: »Flussabwärts gegen den Strom«. Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

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