Destroy the limiting belief in your mind
Eine der Standardschoten, mit denen Motivationstrainer ihre Klientel einstimmen, verdankt sich dem Ausnahmegewichtheber Wassili Alexejew (1942 – 2011). Ich verzichte auf die Einzelheiten, die hier wohl niemanden interessieren, und konzentriere mich auf den psychologischen Kern. 1974 übertraf Alexejew eine Marke auf Weltrekordniveau vermutlich nur deshalb, weil er ausgetrickst worden war. Seine Trainer hatten eine Hantel mit 250 Kilo beladen, gaben aber gegenüber dem Athleten ein geringeres Gewicht an. Seither kursiert die Episode als Paradebeispiel für die Überwindung einer mentalen Sperre. Angeblich sei Alexejew bis zu dem Rekord felsenfest davon überzeugt gewesen, an einer unverrückbaren Grenze scheitern zu müssen. Natürlich ist das die Geschichte vom Glauben, der Berge versetzt.
Der Finanz- und Yoga-Experte Fürchtegott Hölzenbein macht eine Tür auf und Doris Steinbrecher überschreitet die Schwelle. Sie steht am Anfang einer Verwandlung. Doch wie stets ist nicht alles reinsten Wassers. In der Gruppe, die sich wöchentlich im evangelischen Gemeindehaus trifft, entbehrt Doris die Exklusivität. Alles erscheint ihr flacher, weniger edel, sobald die Leiber sich tummeln und das Profane triumphiert. Edel ist ein vorsichtiges Wort für heilig. In Fürchtegott den Priester einer eigenen Religion zu erkennen, gelingt Doris mühelos.
Sie schwärmt und fürchtet sich.
Die Einzelstunden mit dem Meister folgen eigenen Gesetzen. Sie finden in Fürchtegotts häuslichem Arbeitszimmer statt. Der Hausherr betreibt Abschottung im Verhältnis zur Ehefrau, die den Guru im Gatten nicht zu erkennen vermag. Vorsichtshalber verliebt sich Doris in Fürchtegott. Auch das verschleppt das Ungute im Spektrum zwischen Mundgeruch, Schweißgestank und der fürsorglichen Hand viel zu oft in der Nähe weiblicher Sekundärmerkmale. Doris fühlt sich mitunter an Hilfestellungen ihres Sportlehrers Haug von Tettnang erinnert. Der Nachfahre eines schwäbischen Rittergeschlechts beherrscht die Schliche des dezenten Übergriffs. Einschlägige Vorwürfe würde er sich vehement verbitten und mit rechtlichen Schritten drohen und jeder Schmälerung seines großen Namens notfalls in der Manier seiner Vorfahren entgegentreten.
Da traut sich Doris nichts zu sagen. Fürchtegott steht aber auf einem anderen Blatt. Mit der ersten Yoga-Sequenz, die er Doris nahebringt, macht er ihr sein erstes Geschenk. Eine neue Welt öffnet ihre Pforten für die Eleve.
Randnotiz
Die erste bemannte Mondlandung am 20./21. Juli 1969 im Rahmen der Apollo-11-Mission vereint die Welt vor den Bildschirmen. Die maschinelle Überwindung menschlicher Beschränkungen fasziniert auch Doris. Die Wallfahrt zum Mond erlebt sie als Hochamt in ihrem Elternhaus. Es wird Zeit, dass wir über ihre große, im Enzkreis an allen Ecken präsente Familie reden. Doris ist weiß Gott kein Einzelkind. Sieben Schwestern rivalisieren im Bund der Steinbrecher-Töchter. Sechs werden erfolgreiche Männer heiraten. Nur Doris wird durch den Rost gediegener Bürgerlichkeit fallen.
25 Jahre später – Schwäbischer Flow-Markt
Jeden Abend untersucht sie ihren Sohn. In den Achselhöhlen und im Schambereich fahndet Doris nach den Verursachern von Hirnhautreizungen. Die Angst vor Frühsommer-Meningoenzephalitis sitzt tief im mütterlichen Fürsorgekörper. Sie mischt sich mit diffusen und konkreten Befürchtungen und einer ewigen Hinterkopf-Litanei. Den Druck verstärken im Augenblick Nachrichten von Milzbranderregern, die ewig im sibirischen Permafrost eingeschlossen waren und in diesem viel zu heißen Sommer aus aufgetauten Kadavern entweichen. Rasend schnell greifen die Anthrax-Sporen um sich. Sie dezimieren Rentierherden und ihre Hirten. Indigene Gemeinschaften müssen evakuiert und unter Quarantäne gestellt werden.
Gletscherschmelzen treiben Pandemien an. Achtundzwanzig bis eben unbekannte Virus-Gruppen fanden Wissenschaftler im Tauwasser. Dazu kommen steinalte Spielarten von Pocken, Spanischer Grippe und Beulenpest.
Lausen nannte Doris‘ im nächsten zum Kloster von Maulbronn gehörenden Ort geborene Oma Schäufele die Zeckeninspektion. Mütter lausen ihre Kinder und, wenn es sich ergibt, auch die Kinder anderer Leute. Zur großmütterlichen Kernkompetenz zählten lauter Warnungen. Nach dem Verzehr von Kirschen durfte kein Wasser getrunken werden. Beschworen wurde das vermeintliche Gift der Vogelbeere. Eine versunkene Welt aus Vorhaltungen, Binsen und Kalendersprüchen: ein rationalisierter Aberglaube offenbarte sich im Unwiderruflichen, egal ob vom Wetter oder von der Kindererziehung die Rede war.
„Hal-lob-lob-lob.“
Das ist der Koppel-Ruf. Das Anwesen von Doris‘ Eltern heißt im Familienmund Koppel. Kenos Großmutter ruft den Enkel zum Abendbrot. Der Knabe genießt die Privilegien eines Kronprinzen, während seine Mutter und deren im Augenblick abwesende Liebhaber Raimund Freitag als Geächtete zu keiner Mahlzeit ins Haupthaus eingeladen werden. Noch nicht mal zum Sonntagskaffee.
Keno entwischt seiner Mutter. Er fegt durch die Tür in die Freiheit eines guten Lebens. Eine Maus schießt über schrundige Dielen und verschwindet unter einer verschrammten Kommode. Doris weist ihren Widerwillen ab. Nach ihrer reuigen Rückkehr wurde ihr und dem Anhang ein Verschlag zugewiesen. Die Bude über dem Stall ist eine Strafe. Doris ist bereit zur Buße. Sie weiß, dass man sie trotzdem bockig und undankbar findet.
Sie streckt sich. Flexibel ist Doris in jeder Hinsicht. Es bleibt ihr nichts anderes übrig. Lustlos gibt sie Kurse an der Pforzheimer Volkshochschule. Erbittert wischt sie Böden. Doris‘ beste Jugendfreundin ist nun ihre beste Arbeitgeberin. Michaela Frankenstein treibt das Yoga-Business mit Impertinenz auf die Spitze. Ihrer effektiven Ausstrahlung zum Trotz ist Michaela depressiv und alkoholkrank.
Die Expertinnen bewegen sich in Grauzonen der Hochstapelei. Während sie sich mit Drogen in Gang halten, suggerieren sie der Kundschaft, den Aktivismus der Selbstheilungskräfte so mühelos wie turbomäßig mobilisieren zu können.