Muskelmanie
Die Yoga-Lehrerin Doris Steinbrecher versucht sich auf Volkshochschulniveau zu stabilisieren. Das misslingt. Sie haust in einem Stelldachboden über Pferden, denen mehr Bedeutung beigemessen wir als ihr. Gleichzeitig erlebt ihr – mit einem kenianischen Guru gezeugter – Sohn Keno als Enkel des furiosen Selfmade-Millionärs und Herrenreiters von eigenen Gnaden Anton S. einen Aufstieg. Das zweisprachige Kind avanciert zum designierten Nachfolger des Chefs.
Alle nennen Anton Chef.
Nach harten Dortmunder Volksschuljahren als Legastheniker kam Anton mit dreizehn in eine Elektrikerlehre. Der Geselle hätte als Double von Johnny Weissmüller auftreten können. Er heuerte auf einem Frachtsegler an. Mit bloßen Händen stieg er in vereiste Wanten. Den Ärmelkanal überquerte er in einem Einbaum der Rosenheimer Faltbootwerft Klepper. Er stellte ein paar Rekorde auf. Geld verdiente er, wo immer sich eine Gelegenheit bot, und so auch im Straßenbau. Auf dem Nordschwarzwälder Dobel errichtete der Westfale beinah im Alleingang einen Aussichtsturm. Er blieb in der Gegend.
Der junge Anton spielte seine körperliche Superpräsenz herunter und trat mit ausgedachter Grandezza auf. Aus allem Aufgeschnappten lernte er etwas fürs Leben. Jede Geschichte hatte ihre Moral.
Anton glaubte an sich. Er konnte andere begeistern. Schon mit fünfundzwanzig, noch lebte er sparsam zur Untermiete, besaß er ein Pferd und ein Motorrad. Er freite das in badischen Gazetten hymnisch besungene ‚Schwarzwaldmädchen‘ Elisabeth ‚Betty‘ Britsch. Die national erfolgreiche Schwimmerin und Feldhockeyspielerin war ein Pforzheimer High Society-Schwarm. Motorisierte Verehrer standen Schlange. Honoratiorensöhne rissen sich um Betty, aber das Rennen machte ein ungebildeter Mann aus kleinen Verhältnissen.
Anton brauchte keinen bedeutenden Vater, um bedeutend zu sein. Schließlich entdeckte er den pferdeverrückten/rossnärrischen Unternehmer in sich. Auf seinem Hof, der Koppel, versorgt er sieben Trakehner, die er täglich an der Lounge bewegt. Sein Lieblingsenkel lebt im Schlaraffenland.
Keno hat ein Schwarzenegger-Poster im Reiterstübchen an eine Wand gepinnt; selbstverständlich in Absprache mit Anton. Bodybuilding ist allgemein verschrien. Über Arnold Schwarzenegger machen sich die Leute lustig. Sie halten ihn für dumm. Er ist aber präsent. Seine Schauposen werden spotteifrig nachgeahmt. Dies geschieht in einem ansonsten Kraft verherrlichenden Milieu. In der männlichen Dimension des Dorfes dreht sich viel um Schlagkraft und Kraftfahrzeuge. Schwarzeneggers amerikanische Karriere nimmt ihm sein Stigma nicht ab. Lauter Verlierer sind nicht bereit, auch nur drei Groschen auf den Millionär zu setzen.
Betty und Anton stoßen sich nicht an der Muskelmanie des Enkels. Das alte Ehepaar vereint sich auch in dem Wissen und der Gewissheit, dass der Junge nicht ganz dicht ist, aber doch ein ganz Lieber. Tröstlich findet es die Vorstellung, Keno bis zum Schluss in konkreter Versorgungsreichweite zu haben.