Die neue Kieler Folge Borowski und das hungrige Herz (NDR-Redaktion: Sabine Holtgreve) ist der vorletzte Tatort mit Axel Milberg in der Kommissarsrolle. Was sich nach Milbergs Abgang auf jeden Fall ändern wird, sind die Titel der einzelnen Filme. Denn Borowski hatte nach Zollfahnder Kressin (1971-73, WDR) und der Stuttgarter Legende Bienzle (1992–2007, SDR/SWR) als dritter Ermittler das bislang nur Männern vorbehaltene Privileg, dass die Fälle nach ihm hießen (Trimmel, 1970–82, NDR, wäre diesbezüglich ein Grenzfall). Ähnlich wie bei Murot (seit 2010, HR) war diese Art der Markenpflege auch in Kiel nicht von Beginn an so, weshalb ein Viertel des Boro-Werks gewöhnliche Titel trägt.
Der Vorteil an dieser Form des Branding ist, dass jeder Film sofort in die Reihe verortet wird, der Nachteil, dass der Titel über den einzelnen Film nicht mehr viel aussagt. Das „hungrige Herz“ steht hier für sex- und liebessüchtige Frauen, aber „Borowski und die Sex-Party“ wäre vermutlich etwas zu gewagt gewesen.
Mit einem solchen Ereignis beginnt die Folge. Geladen hat die Steuerfachfrau Andrea Gonzor (Anna König) sechs Männer. Ihre Freundin, die Fischbrötchenverkäuferin Nele Krüger (Laura Balzer), die Gonzor aus einer Selbsthilfegruppe für Sexsüchtige kennt, springt am Rande des Events herum. Sie ermöglicht etwa dem vorbeischneienden und Sachen abholenden Ex-Freund von Gonzor, Zahnarzt Jan Lottmann (Peter Sikorski), einen Blick aufs Geschehen. Nebenan wohnen die Dörings. Frau Barbara (Lina Wendel), Lehrerin, schweigt zumeist im Hintergrund, während Mann Peter (Martin Umbach) die Zahl der ankommenden Männer mit Blick durch den Spion protokolliert.
Das ist das Personal, über das Boro und Mila Sahin (Almila Bagriacik) Ermittlungen anstellen, denn Andrea Gonzor ist am Ende der Nacht tot. Angesichts des Settings nimmt sich der Tatort allerdings einige Auszeiten von der Polizeiarbeit. So fährt Mila Sahin mit einer früheren Affäre namens Juri Rodinski (Robert Finster) zu einer Swinger-Action in Privatautos auf einem Parkplatz im Regen – eine dieser eher mühsamen Undercover-Aktionen, bei denen die Kommissarin bei Ralf Petersen (Kailas Mahadevan), dem Organisator vom Ganzen und Teilnehmer bei Gonzors Gangbang, hotte Informationen erfragt, damit sie ihn dann aufs Revier vorladen kann. Man weiß nicht recht, was es soll.
So geht es der Betrachterin leider auch beim zentralen „Thema“ von Borowski und das hungrige Herz. Das ist nämlich ziemlich schwammig. Da ist einerseits die Idee, dass Frauen wie Andrea Gonzor oder Nele Krüger Spaß an viel Sex haben können, was Krüger dem Kommissar am Anfang auch mal sagt („Männer, die viel Sex haben, sind echte Kerle – aber Frauen sind immer noch Schlampen“). Aber andererseits pathologisiert der Tatort Gonzor und vor allem Krüger genau deswegen wieder, schickt sie in Selbsthilfegruppen und lässt sie vor anderen borderlinern (Drehbuch: Katrin Bühlig), dass es eine Art hat.
Krüger, die eine Babypuppe im Kinderzimmer unter dem Namen Sophie bemuttert, wird im Laufe des Films zur Stalkerin von Boro. Sie erbittet unter dem Vorwand einer Verletzung Zutritt zu seinem Haus, um sich dort im Bad einzuschließen. Als Boro daraufhin die Notärzte alarmiert, empfiehlt sie diesen den Kommissar als Versorgungsfall, weil der sich an der Schulter verletzt hatte, beim Versuch, die Badtür aufzubrechen. Findet vielleicht auch jemand spannend, hat aber sehr wenig mit dem Fall zu tun. Und wie Krüger an Boros Adresse kommt, ist leider so bemüht inszeniert wie ihre Figur an sich: Boro verliert in ihrer Gegenwart einen Briefumschlag, den sie total diskret aufheben und die Anschrift darauf entziffern kann (Regie: María Sólrún).
Die innere Umwegigkeit von Borowski und das hungrige Herz macht den Film zum Missvergnügen. Dieser Tatort ist ein gutes Beispiel dafür, wie beim Versuch, ein „Thema“ als Krimi zu erzählen, weder Themenfilm noch Krimi rauskommt. Auch wenn dauernd vermeintlich passende Hits aufgelegt werden wie in einer Radiosendung: Hungriges Herz von MIA., 100.000 Fans von Hayti, Schön von hinten von Stereo Total, 36grad von 2raumwohnung oder auch Die Gefühle haben Schweigepflicht von Andrea Berg. In der Mitte des Films liegt der Fokus eine gefühlte halbe Stunde lang auf verschiedenen Paar-Situationen (Mila und Juri, die Dörings, und wie Krüger was von Boro will), in denen der Umgang mit Sex und Liebe durchdekliniert wird. Was die ganze Geschichte noch mal verwirrender macht, weil die Sexsucht hier die Liebessucht Huckepack nimmt. Promiskuität ist nur ein stiller Schrei nach romantischer Zweierbeziehung.
Die Details zur Falllösung werden eingestreut wie Intermezzi. Im Halbfinale wird erst Boro von Krüger mit einer Waffe in deren Wohnung bedroht, eine Situation, aus der Sahin den Kollegen mit Faustschlag retten muss. Danach stehen die beiden vorm Haus von Krüger, und dem Kommissar fällt plötzlich auf, dass der eine, noch nicht identifizierte Gonzor-Gast am Gangbang-Abend sich „Axl ohne E“ nennt. Und dass das Peter Döring sein muss, weil der in jeder Szene vorbildlicherweise Musik von Guns’n’Roses (Frontmann: Axl Rose) gehört hat. Der im Bett mit der eigenen Frau impotente Döring war es dann aber gar nicht, sondern Gattin Barbara. Und die noch nicht mal richtig. Nun ja.