Zwei Produktionen greifen den Mythos der Hauptstadt in der Zwischenkriegszeit auf: Constanza Macras sagt an der Volksbühne „Goodbye Berlin“ und Marcos Morau füllt am Staatsballett eine ästhetische „Wunderkammer“
Rasante Choreografien treffen bei Constanza Macras auf gewissermaßen in Großbuchstaben gesprochene Texte
Foto: Thomas Aurin
Mene, mene, tekel: Mit der Weimarer Republik wird die Gegenwart derzeit gern verglichen, um vor dem Aufstieg der AfD und dem Ende der Demokratie zu warnen. Die 1920er und 30er üben aber auch künstlerisch ungebrochen Faszination aus – Stichwort Expressionismus, Ausdruckstanz oder Surrealismus. Am vergangenen Wochenende hatten in Berlin zwei Bühnenproduktionen Premiere, die sich jener Zeit und dem heraufziehenden Faschismus widmen: Constanza Macras’ Goodbye Berlin und Marcos Moraus Wunderkammer.
Constanza Macras sagt an der Volksbühne Goodbye Berlin mit Christopher Isherwoods autofiktionalem Roman, in dem er seinen Aufenthalt im Berlin der 30er Jahre literarisierte. „Auf Wiedersehen, Berlin“ könnte es aber auch für die Choreografin heißen: Kürzlich erfuhr Macras, dass der ab Sommer 2026 wirkende Volksbühnen-Intendant Matthias Lilienthal für sie und ihre Kompanie Dorky Park keinen Platz mehr bietet. Dabei arbeitete sie an seiner früheren Wirkungsstätte, dem HAU Hebbel am Ufer, lange erfolgreich mit ihm zusammen.
Nach 30 Jahren droht das Aus für eine Kompanie, die als eine der wenigen der Freien Szene fest angestellte Tänzerinnen und Tänzer beschäftigt. Im Hintergrund, erzählt Constanza Macras vor der Premiere, wird wohl an einer Lösung gewerkelt, um der absurden Situation zu entgehen, dass eine institutionell vom Land Berlin geförderte Truppe ohne Produktions- und Auftrittsmöglichkeiten bleibt. Aber was auch immer sich ergeben wird: Der Titel von Macras’ vorerst letzter Volksbühnen-Premiere ist kulturpolitisch aufgeladen.
Doch nun spricht erst einmal die Kunst. Wie in allen Macras-Produktionen treffen in Goodbye Berlin rasante Choreografien in den diversesten Bewegungsstilen – Pole Dance, Paartanz, Partnerakrobatik sind es hier – auf gewissermaßen in Großbuchstaben gesprochene Texte. Isherwood wird vom versatilen Campbell Caspary zitiert, der sich mit Anzug und Melone als soignierter Erzähler gibt, dann aber, wie in einer Klamotte, spektakulär von der Showtreppe rutscht. Steph Quinci führt als Expat die Nowaks vor, die bei Isherwood als ärmliche Arbeiterfamilie den Nazis nahestehen und bei Macras wie im Wachsfigurenkabinett als dumpfe Deutsche vor einem Hexenhäuschen aufgereiht sind.
Irgendwann fällt der Satz, dass hier ja nun die Faschisten wieder zum Stadtbild gehörten – eine knallige aktuelle Anspielung. In den recht unscharf konzipierten Bildern, die die Tanztheater-Inszenierung entwirft, klingen diese Worte allerdings etwas wohlfeil. Sah man zu Beginn von Goodbye Berlin die Großstadt in schwarz-weiß gefilmtem Glanz – breite Bürgersteige, reges Treiben im Verkehr –, liegt die Nazi-Hauptstadt am Schluss in Schutt und Asche.
Vor den historischen Aufnahmen des bombardierten Berlin wanken Macras’ Tänzerinnen und Tänzer wie Skelette auf die Rampe zu. Mit Tape haben sie sich schwarze Rippen aufgeklebt, eine Reminiszenz an die Fetischkleidung, mit der sie zuvor Berlins Clubszene illustrierten. Falls sie nun die Opfer des Zweiten Weltkrieges darstellen, wieso verfügen sie dann über die staunenswerte Körperbeherrschung von Artisten? Und sofern das eine Revuetruppe ist, die, wie die zuvor zitierte Grotesktänzerin Valeska Gert, den Tod verkörpert, wieso präsentiert sie sich dann so proper? Etwas klarere dramaturgische Entscheidungen hätten Goodbye Berlin nicht geschadet.
Disparat, aber stringent
Disparat ist auch, was Marcos Morau als „Artist in Residence“ am Staatsballett mit Wunderkammer präsentiert. Allerdings legt das schon der Titel nah, trafen doch in den Wunderkammern die verschiedensten Objekte aufeinander – anatomische Präparate, Gesteine, Automaten, koloniale Beutestücke. Und so sammelt auch Morau diverse Ästhetiken, führt sie mit seinem künstlerischen Team aber visuell wie akustisch zu einem einheitlichen Look and Feel zusammen: gedeckte Farben der Fetisch-Varieté-Kostüme, ein von Clara Aguilar und Ben Meerwein durchkomponierter Soundtrack mit der Spannweite von Kirchenchor bis Techno. Wie bei Macras flackern in Wunderkammer Revue-Elemente als Reminiszenzen an die Goldenen Zwanziger auf, etwa wenn sich die Tänzer*innen auf einer verspiegelten Stufenpyramide zu einem Wimmelbild mit Cabaret-Anmutung arrangieren.
Diese Bilder bleiben bedeutungsoffen, ähnlich wie in Goodbye Berlin; gewaltvolle Momente bleiben abstrakt und der Faschismus ausgeklammert. Und doch werden ambivalente Assoziationen hier bewusster aufgerufen. Marcos Morau huldigt Berlin als Tanzmetropole, greift die Fäden zeitgenössischer und historischer Ästhetiken auf und verdrillt sie zu dichten Szenen.
Mit aufgerissenen Mündern erinnert das Ensemble, am Orchestergraben des Schillertheaters Auge in Auge mit dem Publikum, an die Tradition des grotesken Ausdruckstanzes – noch eine Parallele zu Macras. Dann wieder zeigt die ausgezeichnet trainierte Kompanie klassische Sequenzen an der Ballettstange oder formt auf einem bühnenbreiten Sofa eine Girlreihe mit ironisch gereckten Beinen. Manieristisch wirkt dieses Sammelsurium bisweilen, steckt es doch unter einem perfekten visuellen und akustischen Firnis. Und doch ist Wunderkammer der stringentere Tanztheater-Abend. Aber er ist wahrscheinlich auch mit einem viel höheren Budget als Goodbye Berlin entstanden.
Goodbye Berlin Constanza Macras Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Wunderkammer Marcos Morau Staatsballett Berlin, Schillertheater