Ryyan Alshebl, 1994 in Syrien geboren, floh 2015 vor Assads Regime. Der Grünen-Politiker ist der erste deutsche Bürgermeister mit unmittelbarer Fluchtgeschichte.
Ich bin Bürgermeister von Ostelsheim, einer kleinen Gemeinde in Schwaben. Und ich bin auch ein Mann, der in Syrien aufwuchs und 2015 nach Deutschland kam. Dieser Tage werde ich oft gebeten, weniger über Syrien zu sprechen. Dahinter steckt eine nachvollziehbare Sorge: Manche fürchten, mein Blick nach außen könnte mich von meinem Engagement in Deutschland ablenken.
Für mich ist Syrien kein fernes Land, über das ich distanziert sprechen kann. Es ist die Heimat meiner Eltern, meiner Freunde. Sie leben in der kriegsgezeichneten Provinz as-Suwaida. Es ist auch ein Land, das in den Nachrichten auftaucht, weil der Aufstand seit 2011, der Bürgerkrieg, Millionen Flüchtlinge, Assads Regime und schließlich sein Sturz auch unser Leben und unsere Gesellschaft in Deutschland und Europa verändert haben.
Heute steht Syrien erneut am Abgrund: Nach dem Sturz Assads hat die islamistische Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) die Macht übernommen, die nun mit Gewalt statt mit Recht regiert. Minderheiten wie die Drusen oder Kurden sind bedroht, in Suwaida kam es zu Massakern mit Tausenden Toten.
Doch es wirkt, als würde die deutsche Bundesregierung mit ihrer Außenpolitik wegsehen wollen. Dabei gilt eine unangenehme Wahrheit: Stürzt Syrien erneut ins Chaos, werden wir die Folgen auch hier, in unseren Gemeinden, in unserer Gesellschaft spüren. Und deshalb will ich nicht schweigen.
Damals unterstützte ich die neue Übergangsregierung noch
Der 8. Dezember 2024 war für uns Syrer ein Mauerfallmoment. Für einen kurzen Augenblick atmete das Land auf. Nach 14 Jahren Bürgerkrieg und Jahrzehnten der Diktatur der Assad-Familie schien ein neues Kapitel möglich. Dieser Tag wurde gefeiert – in Syrien und auch hier in Deutschland. Damals herrschte, mit Ausnahme der AfD, breite Einigkeit: Eine Rückkehr zu irgendeiner Normalität mit dem gestürzten, verbrecherischen Regime durfte es niemals geben. Darauf konnte Deutschland stolz sein.
Als die damalige Außenministerin Annalena Baerbock kurz darauf Damaskus besuchte, knüpfte sie die Zusammenarbeit mit der neuen Übergangsregierung von Hay’at Tahrir al-Sham an klare Bedingungen: erstens, ein politischer Übergang, der alle Syrer einbezieht – unabhängig von Religion oder Herkunft. Zweitens, eine schonungslose Aufarbeitung der Vergangenheit, um Gerechtigkeit zu ermöglichen und Racheakte zu verhindern. Drittens, eine eindeutige Abkehr vom Extremismus in Syrien, ein aktiver Kampf gegen radikale Gruppen.
Ich war damals eine der vielen deutsch-syrischen Stimmen, welche die Bedingungen unterstützten. Ich wollte glauben, dass HTS gelernt hatte – dass sie begriffen hatte, dass nur ein ziviler Staat den Weg aus der Katastrophe öffnen könnte. Damals habe ich sogar ihren Anführer, Abu Mohammed al-Dschaulani, in Interviews verteidigt. Er schien eine Wende vollzogen zu haben: vom Milizenführer mit islamistischem Hintergrund zu einem Mann, der sich staatsmännisch gab, modern auftrat und die Sprache der Politik beherrschte.
Alle Syrer, die sich nicht der radikalen Ideologie unterwerfen, sind bedroht
Doch hinter der modern anmutenden Fassade des HTS verbirgt sich eine andere Wirklichkeit. Seine Herrschaft gründet nicht auf Recht und Ordnung, sondern auf dem nackten Gesetz des Stärkeren. Das wissen vor allem die Minderheiten in Syrien, und sie misstrauen den neuen Machthabern mit gutem Grund. Das HTS ist ein direkter Ableger von Al-Kaida, seine Kämpfer sollen nun in staatliche Strukturen integriert werden. Alle Syrer, die sich ihrer radikalen Ideologie nicht unterwerfen, sind bedroht.
Der Machtanspruch, den die Miliz aus dem Sieg über Assad ableitet, zerstört jene Schutzräume, die sich Drusen und Kurden im Bürgerkrieg erkämpft hatten. Noch schlechter steht es um andere Gemeinschaften wie Christen und Alawiten. Weil sie keine geschlossenen Siedlungsgebiete haben, können sie sich nicht selbst verteidigen. Schon in der Vergangenheit hat sie das Massakern und Anschlägen schutzlos ausgeliefert. Nun droht diese Gefahr erneut.