Synagoge in München: Im Innern ein Leuchten

Rachel Salamander hat es wieder getan: Die
furchtloseste Buchhändlerin der Republik, der wir verdanken, dass all die
ausgebürgerten, ermordeten oder einfach nur vergessenen jüdischen Denker und
Schriftsteller nach der Schoah ihren Weg zurück in den deutschen Literaturkanon
gefunden haben, hat noch einmal in ihrem Leben ein Stück jüdische Geschichte
rekonstruiert. Sie steht vor mir, in der Münchner Reichenbachstraße – wie immer
elegant angezogen, weiße Bluse, burgunderroter Mantel, ein bisschen Lippenstift,
und schaut mich erleichtert an. „Dass ich in meinem Leben einmal die Ehre haben
würde, ein Gotteshaus zu retten, damit habe ich wirklich nicht gerechnet“, sagt
sie, die 1949 geboren wurde und bis 1956 unter lauter jiddisch sprechenden,
regelmäßig betenden Holocaust-Überlebenden im Lager Föhrenwald aufgewachsen
ist.

Sie hüpft wie eine junge chalutzah an den Bauarbeitern vorbei, hinein in
das pompejanisch rot gestrichene Foyer der im Hinterhof versteckten Synagoge.
Es ist ein warm-nasser Septembervormittag. In einer Woche wird der
Bundeskanzler hier, mit einer vermutlich nur selten benutzten Kippa auf dem
Kopf, zusammen mit vielen bekannten Juden und Nichtjuden die Wiederherstellung
der 1931 zum ersten Mal eröffneten, vom Bauhaus inspirierten Synagoge feiern.
Noch dröhnen und kreischen die Werkzeuge, aber in ein paar Tagen soll endlich,
nach fast 15 Jahren Wiederaufbau, alles fertig sein. Ein Erfolg. Oder?

Die neue Geschichte der alten
Reichenbach-Synagoge beginnt 2011. Damals lief Rachel Salamander zufällig an
dem Gebäude vorbei, in das sie nach dem Umzug von Föhrenwald nach München mit
ihrem Bruder Beno erst zum Spielen, später zum Singen ging. Weder ihre Mutter
Riva, die als junge Frau aus dem Warschauer Ghetto floh und 1953 starb, noch
ihr durch Stalins Gulags für immer krank gemachter Vater Samuel konnten
mitkommen. Als sie, Rachel Salamander, durch das Fenster gesehen habe, habe sie
sofort gewusst, dass sie etwas unternehmen müsse. Ansonsten wäre das seit 2006,
seit der Einweihung der neuen Hauptsynagoge am St.-Jakobs-Platz, leer stehende
Haus wohl verfallen. Warum sie es retten wollte? Um ein Zeichen zu setzen nach
dem Motto „Wer ein Haus baut, will bleiben“? Nein, so einen Unsinn würde ich
von ihr niemals hören, sagt die Realistin und ewige Skeptikerin Salamander.
„Meine Ge­ne­ra­tion, die Generation der Nachgeborenen, hat sich immer darüber
beklagt, dass sie alles verlor. Da kannst du nicht einfach zugucken, wie so ein
Erbe zugrunde geht.“

„Eine noble Idee“, soll Charlotte Knobloch,
die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, zu
ihr gesagt haben. „Machen Sie!“ Und Rachel Salamander machte. Mit dem
Rechtsanwalt Ron Jakubowicz gründete sie einen Verein, überzeugte Bund, Stadt
und Freistaat, je 30 Prozent der Sanierungskosten zu übernehmen, sammelte
Spenden, um die restlichen zehn Prozent zahlen zu können, diskutierte mit dem
Denkmalschutz, also mit Leuten, die offenbar nichts kapiert hatten, weil sie
nämlich forderten, dass die Synagoge nicht in ihren edlen Vorkriegs-, sondern
in ihren kümmerlichen Nachkriegszustand versetzt wird. Aber auch diese
Diskussion gewann Salamander, das Baudenkmal sieht heute wieder aus wie 1931,
womit wir bei der verrückten alten Geschichte der Reichenbach-Synagoge wären.

Als der jüdische Architekt Gustav Meyerstein den
vor russischen Pogromen geflohenen Münchner Ostjuden eine Synagoge bauen
wollte, crashte an der Wall Street in New York die Börse. Es folgte die Große
Depression, Geld fehlte überall. Aber Meyerstein habe aus der Not eine Tugend
gemacht und innerhalb von fünf Monaten den modernsten Sakralbau der Stadt
geschaffen, sagt die mittlerweile innen unter dem ewigen Licht stehende Rachel
Salamander. Der minimalistische Stil des Bauhauses und der Neuen Sachlichkeit,
der Meyerstein während seines Studiums im München der Zwanzigerjahre so
fasziniert hatte, kam mit wenig aus. Und wieder strahlt Rachel Salamander wie
ein Kind. Sie zeigt auf die mundgeblasenen Leuchten, das Glasdach, schwärmt von
den bunten Fenstern – dem einzigen ornamentalen Detail hier – und vom
Zusammenspiel der Cremefarbe der Frauenempore mit dem Blau der Wände. Mal
wirken sie lila, mal hellblau, dann türkis, je nach Lichteinfall. Ein Ort zum
Religiöswerden.

Einen Tag vor ihrer Einweihung im September 1931
lobte Das Jüdische Echo die Synagoge als
„Ausdruck jüdischer Lebenskraft“ in einer „Notzeit ohnegleichen“. Könnte es
genau so heute, zur Wiedereröffnung im Antisemitismus-Jahrzehnt der 2020er, in
der Jüdischen Allgemeinen stehen? Natürlich
nicht. Denn die Redakteure dort wissen, der Gnade ihrer späten Geburt wegen,
dass es damals nur anderthalb Jahre dauerte, bis Hitler Reichskanzler wurde.
Sie wissen, wie schnell jüdische Lebenskraft zerstört werden kann.

Während der
Pogromnacht im November 1938 zündeten SA-Männer die Reichenbach-Synagoge aus
einer nicht allzu spontanen Laune heraus an. Der weitsichtige Meyerstein war da
längst nach Palästina abgehauen, wo er 1953 die Residenz des ersten
israelischen Ministerpräsidenten David Ben Gurion baute. Vielleicht bekam er
trotzdem mit, dass die Hinterhoflage seiner Münchner Synagoge, über die sich
alle immer beschwert hatten, sie am Ende rettete. Weil das Feuer auf die
umliegenden deutschen Häuser überzuspringen drohte, wurde es rechtzeitig
gelöscht. Im Gegensatz zu – kleiner Zeitsprung – dem bis heute unaufgeklärten
Brandanschlag von 1970 auf das Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde im
Vorderhaus, bei dem das Gebäude zerstört wurde und sieben Juden starben, darunter
zwei KZ-Überlebende.

Und die Synagoge von Gustav Meyerstein? Wurde von
den Nazis während des Zweiten Weltkriegs als Kfz-Werkstatt missbraucht, 1947
dann notdürftig renoviert und wieder eingeweiht. Von da an war es die Synagoge
der Überlebenden und Nachgeborenen, der „displaced
persons“ und „heimatlosen Ausländer“ – Menschen wie Rachel Salamander.
Erst 1992 konnte sie ihren staatenlosen Pass gegen einen deutschen eintauschen.
Diese Leute, von denen die meisten glaubten, dass Deutschland für sie ohnehin
nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach New York oder Tel Aviv sein werde,
hatten in ihrer Not andere Probleme, als sich mit der Ästhetik von Meyersteins
ursprünglichem Bau zu beschäftigen. Die Werkstattatmosphäre verschwand nie
ganz, der Zustand der Synagoge blieb provisorisch – im Gegensatz zum Aufenthalt
ihrer Besucher, von denen viele, wie Riva Salamander, nach ihrer
Beinahevernichtung absurderweise zu krank waren, um aus dem Land der Denker und
Täter ausreisen zu dürfen.

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