Syberberg zeigt „Nachtgesang“: Wie Gergiev doch solange bis an die Peene kam

Es ist eine Sensation, dass der 89 Jahre alte Regisseur Hans-Jürgen Syberberg die Uraufführung des dritten und letzten Teils seiner Demmin-Trilogie, den in diesem Jahr produzierten „Nachtgesang“, als Sonntagsmatinee im Moskauer Kulturzentrum GES-2 und synchron im am Peeneufer von Demmin gelegenen Kulturspeicher herausbrachte.

Der achtzig Minuten lange Film ist logischer Abschluss und künstlerisches Konzentrat von Syberbergs Versuchen, die Traumata der ehemals stolzen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs zerstört wurde und wo sich mehr als tausend Einwohner, da die Rote Armee einrückte, das Leben nahmen, mit Mitteln der Kultur zu therapieren.

Mit achtzigjähriger Verspätung

Syberberg, der in Nossendorf bei Demmin geboren wurde, wo er das Kriegsende erlebte, wohnt seit der Jahrtausendwende wieder dort und sucht Wege, die Identität der Stadt zu reanimieren.

Als Nervenpunkt erwies sich der Horror vom April und Mai 1945, über den zu DDR-Zeiten nicht gesprochen wurden durfte, den aber seit der Wende Populisten von links und rechts instrumentalisieren. Zugleich war Syberberg, der die russische Hochkultur schätzt, die Versöhnungsgeste mit dem früheren Kriegsgegner wichtig, weshalb er im Pandemiejahr 2020 eine Youtube-Aufzeichnung des Deutschen Requiems von Brahms unter Valery Gergiev per Videoüberblendung wenigstens symbolisch in der Kirche von Demmin stattfinden ließ.

Mit der Lesung der Namen der Toten, die Syberberg dieses Frühjahr im Gotteshaus filmte, werden sie mit achtzigjähriger Verspätung auch als Individuen betrauert.

Szene aus „Nachtgesang“: ein Film von Hans-Jürgen SyberbergHans-Jürgen Syberberg

Die Entscheidung des GES-2, das deutsche Kunstwerk über die Tragödie von Demmin zu zeigen – da Russlands Außenminister Lawrow ein Wiederaufleben des Nazitums in Deutschland erkennen will – zeugt von Mut.

Zeitweise aus der Vergessenheit holen

Der Kinokurator Denis Ruzaev betonte in seiner Einführung zwar, der Massenselbstmord von Demmin habe vor dem Einrücken der Sowjettruppen stattgefunden, sagte aber auch, die im Film behandelte Geschichte zeuge vom nicht gesunden Zustand einer Gesellschaft, wie man ihn auch außerhalb Deutschlands finden könne. Außerdem bescheinigte Ruzaev dem Film Aktualität, weil er achtzig Jahre nach Kriegsende mit Empathie zurückblicke.

Die etwa fünfzig bis sechzig Filmfans, die im Moskauer Saal sitzen, schauen, wie auch die verschworene Runde im Speicher an der Peene, zunächst Syberbergs frühere „Demminer Gesänge“ I und II an, die mit authentisch wackliger Handkamera dokumentieren, wie der Regisseur und seine Mitstreiter im Stadtzentrum Theaterkulissen zerstörter Fassaden sowie eines Cafés errichten und dadurch auch Volkslieder, Kirchenchoräle, leichtsinnige Vorkriegssongs wenigstens zeitweise aus der Vergessenheit holen können. Eingeblendet werden jedoch auch Passagen aus Alexander Solschenizyns frühem Poem „Ostpreußische Nächte“, worin er Gräueltaten sowjetischer Soldaten bei ihrem Vormarsch schildert, Goebbels-Parolen sowie die Kindheitserinnerungen des Demminers Karl Schlösser, der das Flüchtlingschaos schildert und wie die Rotarmisten Zivilisten manchmal retteten, oft aber auch erschossen.

Als russisches Bekenntnis zur europäischen Kultur im Krieg montiert Syberberg das Konzert des Petersburger Mariinsky Orchesters im römischen Theater der vom IS befreiten syrischen Stadt Palmyra von 2016 ein. Wie der russische Sologeiger in der Aufnahme des Propagandasenders RT die Chaconne von Johann Sebastian Bach an der Stelle spielt, wo Islamisten zuvor Museumsleute hinrichteten, imponiert dem Künstler und lässt ihn für Sekunden von einem alternativen Kriegsende 1945 träumen – doch die sich anschließende Kamerafahrt über das kriegsversehrte Palmyra ruft heute vor allem durch Russland zerstörte ukrainische Städte sowie die islamistische Rückeroberung Syriens in Erinnerung.

Würdigung der Toten

Syberberg möchte, dass in ostdeutschen Städten wie Demmin nicht leere Kirchen und verlassene Gutshäuser das Bild prägen, weshalb er 2018 hier das Requiem von Mozart aufführen ließ und filmte und sich nun enttäuscht zeigt, dass zum namentlichen Totengedenken nur wieder seine Mitstreiter, aber keine Bürger oder gar Politiker anrückten. Das Demminer Totenbuch ist ein handschriftliches Verzeichnis, das eine Friedhofsangestellte mit hunderten Namen, Geburts- und Sterbedaten sowie Todesursachen in einem Wareneingangsbuch eintrug, auf das später ein Kreuz geklebt wurde.

Der als Collage gearbeitete „Nachtgesang“ zeigt, wie in der Kirche Geistliche die 1945 umgekommenen Demminer Bürger beim Namen rufen, während in einer darübergelegten Bildschicht die Kamera im Buch die Todesumstände vergegenwärtigt: vor allem „ertrunken“ heißt es da oder „Selbstmord“, aber auch „erschossen“ oder „erhängt“. Immer wieder sind auch unbekannte Männer, Frauen und Kinder aufgelistet.

Zur Kulmination kommen als weitere Bild- und Tonschichten das Demminer Mozart-Requiem und Gergievs Brahms-Requiem hinzu sowie das schweigende Gedenken der Zuschauergemeinde im Stehen, so dass die Würdigung der Toten und kulturelle Versöhnung wenigstens im Film „zur Tat wurden“, wie Syberberg es im Autorentext formuliert.

Begeistert von Werk und Schöpfer

Er erinnert daran, dass noch 2020, als das Weltkriegsende sich zum 75. Mal jährte, auch in der Moskauer Deutschen Kirche Brahms‘ Deutsches Requiem aufgeführt wurde, mit Grußbotschaften von Präsident Putin und Bundeskanzlerin Merkel. Heute erleben wir einen neuen Krieg zwischen unseren ehemaligen Feinden und vernichten uns zugleich von innen, lautet sein Schlusswort.

Der große Mann des russischen Kinos, der 87 Jahre alte Naum Klejman, der den Film im GES-2 sah, bekennt, er sei begeistert von ihm und seinem Schöpfer, aber auch bitter angesichts der Tragödien der Menschen und Völker, die ihm zugrunde liegen. Im Film würden Syrien und die Ukraine genannt. Leider gebe es heute noch viele Kriege und Terroranschläge nicht nur gegen Nachbarn, sondern auch gegen das eigene Volk, so Klejman, der berichtet, in Moskau habe kein Zuschauer die Vorführung verlassen, und anschließend hätte man noch lange geredet.

Source: faz.net