SWR streicht „Lesenswert“: Schluss mit kluger Literaturkritik

Man könnte wieder viele Metaphern für das wählen, was gerade beim Südwestrundfunk in Sachen Kulturauftrag passiert, belassen wir es beim Bild vom Kahlschlag. Nach dem Finanzskandal um die ehemalige RBB-Intendantin Patricia Schlesinger ist der Spardruck bei den Öffentlich-Rechtlichen (ÖRR) nach wie vor riesig. Der Rotstift kennt daher kein Pardon, erst recht nicht bei der Literatur. Gleich zwei regelmäßig laufende Formate will der SWR streichen: Zum einen die Sendung Lesenswert, zum anderen das Lesenswert Quartett. Während erstere allein von dem bekannten Kritiker Denis Scheck bespielt wird, teilt er sich in letzterer die Aufmerksamkeit mit Insa Wilke und Ijoma Mangold sowie einem vierten Gast. Was nach viel Raum für Literatur klingt, ist auch so. Daher ist zunächst jeder Wegfall an Sendezeit ein trauriges Signal für die ohnehin schwindende Kulturberichterstattung.

Booktok macht es vor

Gleichwohl könnte die Entscheidung – zumindest hypothetisch – auch eine Gelegenheit zum Innehalten und zur Reflexion bieten. Nämlich um die TV-Literaturkritik zu erneuern. Dies beträfe zunächst die Besetzungen der Rezensent:innen selbst. Obgleich Scheck zu den unangefochtenen Entertainern und echten Experten auf seinem Gebiet zählt, obgleich er es als einer der wenigen tatsächlich noch schafft, Literaturhäuser mit rhetorisch versierten Elogen und Verrissen zu füllen, stellt er doch inzwischen so etwas wie ein Monopol dar. Scheck ist der Lesepapst. Neben ihm trifft man allenfalls noch auf wenige bekannte Gesichter. Junge Kulturjournalist:innen gehören derweil zu einer seltenen Spezies auf den Bildschirmen, was wohl auch den Eindruck von der Literaturkritik als einer verstaubten Gattung verstärkt. Dabei sollte sie doch insbesondere an einem jüngeren Publikum interessiert sein, gerade an einem, das sich von den audiovisuellen Qualitätsmedien abwendet.

Damit ist man auch bei den Formaten angelangt. Dass es ein schwieriges Unterfangen sein mag, das geschriebene Wort in bewegte Bilder anschaulich, spannend und hochwertig zu übersetzen, will niemand in Abrede stellen. Aber jenseits langer Einstellungen auf Kritiker-Gesichter, die einen Roman nacherzählen (man denke neben Scheck auch an Elke Heidenreichs trutschig anmutende Kolumne bei Spiegel Online), sollte schon mehr Innovation drin sein. Der Aufstieg von Blogger:innen genauso wie die wachsende Beliebtheit von Booktok macht es vor. Dafür muss man nicht auf eine wichtige Form der Vermittlung verzichten, das Gespräch nämlich. Ob zu zweit, wie in der Sendung Kulturzeit oder in der sehr abwechslungsreichen Viererbesetzung im Literaturclub (beides auf 3sat) – Sinn und Zweck, Weite und Tiefe von Literatur erschließt sich am besten im direkten Austausch. Das gemeinsame Besprechen ist dabei stets auch ein exemplarisches Musterbeispiel für praktizierten, demokratischen Austausch, hat also einen Wert auch für Lesemuffel. Selbst bei schlechter Quote sollten wir an derartigen Foren festhalten, weswegen die Streichung des „Lesenswert Quartett“ als feste Institution ein schwerer Fehler ist.

Verlagerung ins Digitale

Wie so oft redet der SWR die Einschnitte klein. Ähnliches haben in den vergangenen Jahren der BR und WDR getan, als sie mit dem Rasenmäher die Sendezeiten für Rezensionen massiv gekürzt haben. So sollen nun (wieder einmal) die Einsparungen auf der einen Seite wiederum Ausgaben auf der anderen Seite begünstigen. Erwähnung findet in diesem Kontext das just ins Leben gerufene Literaturformat Longreads, in dem die Autorin Helene Hegemann jeweils einen Gast besucht und mit ihr oder ihm knapp 40 Minuten lang über Bücher spricht, die prägend waren. Da Longreads lediglich über die Mediathek erreichbar ist, erweist sich die Kürzung als eine Verlagerung der Gelder in den Digitalbereich.

Wird Literatur dadurch nicht durch die Hintertür doch ins Abseits verschoben? Ganz nach dem Motto: Das ist Gedöns und kann ins Netz? Sichtlich drängt sich dieser Verdacht auf, vor allem weil eben bereits in der letzten Dekade zu viele Euphemismen für den Sparradikalismus in Anschlag gebracht wurden. Festhalten lässt sich: Die Programmverantwortlichen scheinen sich hier von ihrem Bildungsauftrag zu verabschieden. Unterschätzt wird dabei von den hausinternen Inkasso-Verwalter:innen der Sender, welchen Beitrag literarische Zeugnisse für das Zusammenleben in einer Gesellschaft leisten. Treffend schreibt dazu der Kulturtheoretiker Byung-Chul Han in seinem Essay (Buch!) Die Errettung des Schönen (2015): „Angesichts des Schönen nimmt das Subjekt eine seitliche (lateral) Position ein, es tritt zur Seite, statt sich vorzudrängen. Es wird zu einer lateralen Figur (lateral figure). Es nimmt sich zurück zugunsten des Anderen.“ Was will er damit sagen? Indem wir uns auf ein Kunstwerk oder eben ein Buch einlassen, geben wir dem Werk Raum. Es ist die Begegnung mit dem Fremden, wofür wir uns gleichzeitig selbst zurücknehmen. So funktioniert Verstehen, so funktioniert Empathie, so funktioniert: lesen.

Diesen Wert zu verteidigen, ist neben der Schule Aufgabe einer starken Literaturkritik, die angemessener Kapazitäten bedarf. Letztere sollte sie wiederum zu nutzen wissen und sich auch selbst weiterentwickeln. Sie muss in jeder Hinsicht pluraler werden. Will heißen: vielstimmiger, bunter, jünger und ein Stück weit vorbehaltloser gegenüber Trends auf dem Buchmarkt, gegen die sich manch altgedienter Rezensent gern versperrt.

Björn Hayer ist freier Literaturkritiker. Er schreibt u.a. für den Freitag, taz, Cicero und die Frankfurter Rundschau. 2024 erschien von ihm Die neuen Schöpfer: Texte zur zeitgenössischen Lyrik

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