Am Abend des 3. März 2022 greifen russische Soldaten das Kernkraftwerk Saporischschja an. Panzer und Militärfahrzeuge rollen in die angrenzende Stadt Enerhodar und stoßen wenig später bis auf das Gelände der Anlage vor. Bis in die frühen Morgenstunden leistet eine kleine Gruppe ukrainischer Soldaten Widerstand.
„Hört sofort auf zu schießen! Ihr gefährdet die Sicherheit der ganzen Welt!“, dröhnt es aus den Lautsprechern des Kraftwerks, aber verhallt im Gefecht, wie der ukrainisch-amerikanische Historiker Serhii Plokhy in seinem Buch Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt beschreibt. Teile der Anlage werden beschädigt, ein Kraftwerksgebäude fängt Feuer, aber die Katastrophe bleibt aus.
Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass ein voll funktionsfähiges Kernkraftwerk militärisch besetzt wird. Der Krieg, so Plokhy, stelle damit schon seit seinem Beginn eine nukleare Bedrohung für die Welt dar.
Das ist im 28-Punkte-Friedensplan für das AKW Saporischschja vorgesehen
Auch der US-Friedensplan widmet einen seiner 28 Punkte dem Kraftwerk. Unter der Leitung der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) soll es wieder in Betrieb genommen, der erzeugte Strom gleichermaßen zwischen dem ukrainischen und dem russischen Netz aufgeteilt werden.
„Grundsätzlich begrüße ich, dass Saporischschja in Friedensverhandlungen eine Rolle spielt“, sagt Oleh Korikov, Leiter der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde. Ein völkerrechtswidrig besetztes Kraftwerk aufzuteilen, dafür gäbe es allerdings keine rechtliche Grundlage.
Korikov betont: Anstatt über die Verteilung von Strom zu diskutieren, müsse zuerst die nukleare Sicherheit gewährleistet werden. Diese sei seit der Besetzung nicht mehr garantiert, eine Reaktivierung des Kraftwerks sei derzeit deshalb undenkbar.
Der Wasser- und Strombedarf ist das zentrale Problem bei Europas größtem Kernkraftwerk
Saporischschja ist mit seinen sechs Reaktoren und einer installierten Leistung von fast sechs Gigawatt das größte Kernkraftwerk Europas. Seit September 2022 produziert es keinen Strom mehr.
Alle sechs Reaktoren befinden sich im sogenannten Cold Shutdown: Die Kettenreaktion ist gestoppt, doch der Zerfall radioaktiver Spaltprodukte wie Cäsium 137 oder Strontium 90 erzeugt weiterhin Restwärme. Diese nehme mit der Zeit exponentiell ab, erklärtClemens Walther, Leiter des Instituts für Radioökologie und Strahlenschutz an der Leibniz Universität Hannover. „Schlimmstenfalls könnte bei einem Ausfall des Kühlsystemsdie verbleibende Restwärmeaber durchaus schwere Beschädigungen der Brennelemente auslösen.“
Um genau das zu verhindern, ist das Kraftwerk nach wie vor auf Wasser und Strom angewiesen – und hier fangen die Probleme an.
Mit der Zerstörung des Kachowka-Staudammsim Juni 2023 verlor das AKW seine primäre Wasserquelle. Um diesen Ausfall teilweise zu kompensieren, begannRosatom – der russische Staatskonzern verwaltet das AKW seit der Besetzung – kurz darauf, elf Grundwasserbrunnen zu bohren.
Russland soll die Anlage mehrmals bewusst vom ukrainischen Netz getrennt haben
Der Wasserspiegel des Hauptkühlbeckens sinkt seitdem jährlich um etwa einen Meter. Allein um das Niveaudauerhaft stabil zu halten, wäre laut einer Analyse der Umweltorganisation Bellona mit Sitz in Litauen die zehnfache Wassermenge nötig. Für den Status quo sei das kein Problem, so Clemens Walther, die Wiederinbetriebnahme auch nur eines Reaktors unter diesen Bedingungensei aber nicht möglich.
Angetrieben wird der gesamte Kühlkreislauf von Wasserpumpen. Die wiederum brauchen Strom. Seit Kriegsbeginn zählte Bellona zehnStromausfälle an der Anlage.
Laut Korikov gibt es zahlreiche Hinweise, dass Russland die Anlage mehrmals bewusst vom ukrainischen Netz getrennt hat,etwa um den Anschluss des Kraftwerks ans russische Netz zu testen. Auch eine Auswertung von Satellitendaten der Umweltorganisation Greenpeace stützt diesen Verdacht einer gezielten Sabotage.
Das werfen ukrainische AKW-Beschäftigte den russischen Besatzern vor
Ohne Anschluss ans Stromnetz hängt die Sicherheit der Anlage von20Dieselgeneratoren ab.Erst vergangenen Oktober war die Anlage mehrere Wochen auf diese Notstromversorgung angewiesen. Mindestens ein Generator fiel in der Zeit aus, und wiederholt wurde vor Treibstoffengpässen gewarnt.
Das AKW Saporischschja liegt direkt an der Frontlinie. DieIAEAberichtete wiederholt von Explosionen und Schäden auf dem Kraftwerksgelände. Besonders kritisch sehen Expert:innen die Militarisierung der Anlage durch Russland. Aus unmittelbarer Nähe des Kraftwerks seien, so die Analyseagentur McKenzie Intelligence Services (MIS), Raketenwerfer abgefeuert worden. In mindestens einer Turbinenhalle sollen zudem Militärgeräte gelagert sein.
Russland habe das gesamte Kraftwerk in eine vollwertige Militärbasis verwandelt, erklärte ein ukrainischer AKW-Mitarbeiter:innen gegenüber der Menschenrechtsorganisation Truth Hounds. Der russische Vertreter bei der IAEA, Mikhail Ulyanov, entgegnete auf die wiederholten internationalen Forderungen nach einer Demilitarisierung trocken: „Man kann nichts demilitarisieren, was nie militarisiert war.“
Zwischen März 2023 und Juni 2025 führte Truth Hounds Interviews mit zahlreichen AKW-Mitarbeiter:innen. Die Situation der Belegschaft sei ein Sicherheitsrisiko, das bislang öffentlich kaum thematisiert werde, sagt einer der Hauptautoren, Denys Sulthanhaliiev.
Laut dem im September 2025 veröffentlichten Bericht von Truth Hounds berichten AKW-Mitarbeiter:innen und Bewohner:innen von Enerhodar von willkürlicher Inhaftierung, Elektroschocks, sexuellem Missbrauch und Scheinhinrichtungen. In Dutzenden Fällen seien Beschäftigte gefoltert und anschließend direkt in mehrstündige Schichten geschickt worden, um die Sicherheit des Kraftwerks aufrechtzuerhalten. „Was für eine nukleare Sicherheit soll das sein?“, wird ein Mitarbeiter zitiert.
Droht ein neues Fukushima oder Tschernobyl?
Rosatom hat nach und nach auch russische Fachkräfte nach Saporischsche verlegt. Diese können die ukrainischen Kräfte jedoch nicht einfach ersetzen. „Ein Kernkraftwerk ist kein VW-Golf“, sagt Nuklearexperte Walther. „Die Reaktoren sind meist Einzelstücke. Es braucht Mitarbeiter, die genau für diese Reaktoren geschult wurden.“
Vor einer nuklearen Katastrophe müsse man derzeit dennoch keine akute Angst haben. Aufgrund der langen Abkühlzeit würde selbst bei Schäden an den Brennelementen oder gar einer Kernschmelze keine Explosion stattfinden, und daher nur wenig Radioaktivität austreten. Clemens Walther: „Kein Vergleich zu Fukushima oder Tschernobyl.“
Ganz anders bei einem aktiven Kraftwerk:Allein die Zeitspanne zwischen dem Ausfall der Kühlsysteme und einer Kernschmelze würde sich von Wochen auf wenige Stunden verkürzen, sagt Denys Sulthanhaliiev. Im laufenden Betrieb gibt es natürlich auch wesentlich mehr flüchtige, radioaktive Stoffe, die im Worst-Case weite Teile Osteuropas und darüber hinaus kontaminieren könnten.
Vergangenen Mai verkündete Rosatom-Chef Alexey Likhachev die Genehmigung eines Plans zur Wiederherstellung der vollen Erzeugungskapazität des Kraftwerks, einschließlich des Austauschs des Stromnetzes. Nach Recherchen von Truth Hounds hat Russland bereits über 200 Kilometer Übertragungsleitungen zwischen dem russischen Netz und dem AKW errichtet.
Der Rosatom-Chef will das Atomkraftwerk nach dem Ende der militärischen Bedrohung wieder hochfahren
Auch der Bau einer neuen, schwimmenden Pumpstation neben den Reaktorblöcken zwei und sechs begann im Juni. Sie soll die Wasserversorgung für eine mögliche Reaktivierung des Werks sicherstellen, sagteder Rosatom-Chef, und fügte hinzu,dass die Reaktoren nur nach dem Ende der militärischen Bedrohung wieder hochgefahren werden sollen.
Was Likhachev darunter genau versteht, wird seitdem unterschiedlich diskutiert. Bisher gibt es aber keine Hinweise, sagt ein IAEA-Sprecher auf Nachfrage, dass ein Restart während des laufenden Kriegs vorbereitet werde.Einige Beobachter:innen interpretieren jedoch gezielte Blackouts und den Bau der Übertragungsleitungenals genau das: eine mögliche Vorbereitung auf eine baldige Wiederinbetriebnahme.
Der Bericht von Truth Hounds richtet sich auch an die EU: Rosatom sei direkt involviert in die völkerrechtswidrige Besetzung des AKW und in Menschenrechtsverletzungen. Dennoch besteht weiterhin eine enge Zusammenarbeit mit dem Konzern. So gibt es beispielsweise Pläne für eine Kooperation der Brennelementefabrik im niedersächsischen Lingen mit Rosatom.
„Die Beweislast gegen Rosatom ist erdrückend“, sagt Denys Sultanhaliiev. „Sie haben AKW-Mitarbeiter systematisch gefoltert, um sie zur Unterzeichnung von Rosatom-Verträgen zu zwingen.“Es sei daher unverständlich, dass bis heute kaum Sanktionen gegen den Konzern erlassen wurden.