Das Familienunternehmen Purdue Pharma hatte die Bedrohung frühzeitig erkannt. Es war absehbar, dass Mitte der neunziger Jahre der Patentschutz auf das bewährte Schmerzmittel MS Contin enden und neue Medikamente der Konkurrenz das Geschäft bedrohen würden. Doch Purdue Pharma hatte vorgesorgt und das berüchtigte Schmerzmittel Oxycontin entwickelt. MS Contin, ein auf Morphium basierendes Schmerzmittel, das abhängig machen kann, war in der Regel nur eingesetzt worden, um die Pein von Krebskranken zu lindern. Die Ambitionen des Unternehmens für das Nachfolgepräparat Oxycontin gingen weit darüber hinaus. Das Schmerzmittel sollte den deutlich größeren Markt für Schmerzbehandlungen erobern, die nichts mit Krebs zu tun hatten.
Das war nicht leicht, wie Purdue Pharma in interner Kommunikation offenbarte. Ärzte reagierten verhalten auf die Anregung, Oxycontin auch gegen Schmerzen wie konventionelle Rückenleiden zu verschreiben. Die Mediziner sorgten sich um die Suchtgefahr. Hinzu kamen komplizierte Vorschriften für Ärzte und Apotheken für den Umgang mit Opioiden. Opioide sind die stärksten verfügbaren Schmerzmittel, sie blockieren die Schmerzwahrnehmung im Körper und können als Rauschmittel genutzt werden. Zu den Opioiden gehören neben Oxycodon, auf dem das Medikament Oxycontin basiert, Morphium und das hochwirksame und oft tödliche Fentanyl, aber auch schwächere Medikamente.
Purdue Pharma überwand die Hindernisse, und es gelang, Oxycontin als verschreibungspflichtiges, aber fast schon normales Schmerzmittel am Markt zu etablieren. Im Jahr 2003 waren fast die Hälfte aller Ärzte, die Oxycontin verschrieben, ganz normale Hausärzte. Andere Pharmaunternehmen eiferten Purdue nach. Die stark abhängig machenden Opioide wurden zum Standard für die Behandlung von mäßigen und chronischen Schmerzen bei einer Vielzahl von Erkrankungen. Es war der Beginn einer Drogenepidemie, im Zuge deren auch die Zahl der Heroin- und Fentanyl-Abhängigen stieg und die sich zu einer der größten Gesundheitskrisen in den Vereinigten Staaten auswuchs. Mehr als 700.000 Menschen starben nach offiziellen Berechnungen im Zuge der Drogenepidemie.
Opioid-Krise für Amerikaner bis heute einschneidend
Doch es passierte noch etwas Erstaunliches: Regionen mit besonders vielen Menschen, die an Opioid-Überdosis starben, rückten politisch nach rechts und halfen Politikern der republikanischen Partei, Wahlen zu gewinnen.
Wie einschneidend die Krise für Amerika bis heute ist, zeigt folgende Statistik: Jeder dritte Erwachsene in den USA kennt jemanden, der an einer Opioid-Überdosis gestorben ist. Für 19 Prozent oder 49 Millionen Amerikaner war es ein Familienmitglied oder ein enger Freund, offenbart eine Umfrage der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health aus dem Jahr 2023.
Auch an der Lebenserwartung lassen die Folgen der Opioid-Krise sich ablesen. Seit 2005 fallen die Vereinigten Staaten in dieser Kategorie hinter andere wichtige Industrieländer zurück. Im Jahr 2022 war die durchschnittliche Lebenserwartung der Amerikaner um drei bis vier Jahre geringer als die der Deutschen oder anderer Westeuropäer. Allein die Opioid-Epidemie, die in Amerika ein singuläres Ausmaß angenommen hat, kostete ein halbes Lebensjahr bis zu acht Monaten.
Auf das Wohlbefinden der amerikanischen Gesellschaft hat die Drogenepidemie so einen großen Einfluss und damit wohl auch auf die politischen Vorlieben. Wie aber lässt sich prüfen, wie die Krise das Wahlverhalten der Amerikaner beeinflusst? Die Ökonomin Victoria Barone und ihre Kollegin Carolina Arteaga nutzten einen Kniff.
Aus Gerichtsakten wussten sie, dass Purdue sein Oxycontin aggressiv zunächst in den Regionen vermarktet hatte, in denen die Sterblichkeit aufgrund von Krebserkrankungen besonders hoch war. Das hatte praktische Gründe. Dort praktizierten die Ärzte, die mit der Verschreibung von Opioiden für Krebspatienten und andere tödliche Krankheiten vertraut waren. Dort gab es die Apotheken, die Opioide ausgeben durften. Aus Sicht von Purdue Pharma waren das die besten Gegenden, um Oxycontin an den Markt zu bringen und um für einen breiten Einsatz in der Schmerztherapie zu werben. Für die Ökonominnen waren das ideale Gegenden, um den Einfluss der Epidemie auf das Wahlverhalten zu prüfen.
Wie Oxycontin die Wahlergebnisse beeinflusste
Die Analyse zeigt, dass die von Purdue Pharma und Konkurrenten ins Visier genommenen Krebs-Regionen in den beiden Jahrzehnten nach Markteinführung deutlich mehr tödliche Opioid-Überdosierungen verzeichneten als der Rest des Landes. Bald nach Einführung von Oxycontin kam es in den Gebieten, die stärker von der Opioid-Epidemie betroffen waren, zu einem Anstieg der Sterblichkeit und der Abhängigkeit von öffentlichen Transferprogrammen.
Zugleich wendeten die dortigen Wähler sich den Republikanern zu (Grafik). Bevor Oxycontin auf den Markt kam, waren die Regionen mit hoher Krebsmortalität parteipolitisch nicht eindeutig zuzuordnen. Das änderte sich nach der Einführung des Schmerzmittels. Mit der Opioid-Epidemie gewannen die Republikaner in diesen Regionen von 2012 bis 2020 zusätzliche Sitze im Repräsentantenhaus, mehr Stimmen bei Gouverneurswahlen und mehr Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen von 2016 und 2020. Die Ökonominnen haben berechnet, dass eine um 10 Prozent höhere Krebssterblichkeit für ein Gebiet bedeutete, dass der Stimmenanteil der Republikaner dort um knapp 2 Prozent wuchs. Der Stimmungsumschwung ist vergleichbar mit anderen politischen Großereignissen wie die Verabschiedung des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA 1992, die den Demokraten in besonders betroffenen Regionen viele Stimmen kostete.
Weshalb führen mehr Drogentote zu mehr Stimmen für die Republikaner? Die Ökonomin Barone glaubt nicht, dass die Republikanische Partei eine spezielle Strategie entfaltet habe, um ausgerechnet Leute in den von der Opioid-Epidemie betroffenen Regionen für sich zu gewinnen. Vielmehr habe die Partei sich just im rechten Augenblick gewandelt und begonnen, die wirtschaftliche Not der Arbeiter in Zeiten der Globalisierung und Immigration zu betonen. Wirtschaftlich schwache Regionen wie West Virginia sind Schwerpunkte der Opioid-Epidemie. Die Republikaner gaben sich als die Anwälte des abgehängten und vergessenen Amerikas. Die Botschaft fand Resonanz in den gebeutelten Kreisen.
Außerdem glaubten die Leute offenbar, dass der klassische Ansatz der Republikaner in der Eindämmung der Opioid-Epidemie dem Ansatz der Demokraten überlegen sein würde. Die Republikaner favorisieren eine intensivere Strafverfolgung, während Demokraten eher Reha für Süchtige finanzieren.
Die Demokraten ignorierten die Schwere der Gesundheitskrise lange
Eine wichtige Rolle spielten die Medien. Lokale Zeitungen, die den Republikanern zuneigten, berichteten umfassender über die Opioid-Krise als ihre demokratisch geneigten Wettbewerber. Konservative Journalisten spießten auch häufiger lokale Vorfälle auf. Die Opioid-Epidemie erhielt im nationalen Fernsehsender Fox News mehr Aufmerksamkeit als bei liberaleren Fernsehsendern wie CNN und MSNBC. Fox News berichtete 1,5-mal beziehungsweise 1,7-mal häufiger über die Opioid-Epidemie als CNN und MSNBC. Die Berichterstattung war zudem anders. Fox News berichtete doppelt so häufig über Drogenhandel, Kriminalität und Kartelle wie die linksliberaleren Nachrichtensender.
Die Politiker und speziell die Demokraten in Washington ignorierten die Schwere der Gesundheitskrise lange. Das spiegelte sich unter anderem in der Obamacare-Gesetzgebung. Mit der Neuordnung des Krankenversicherungsmarktes unter dem demokratischen Präsidenten Barack Obama wurden die Versicherer nach Angaben des Ökonomen Casey Mulligan gezwungen, die Kosten für Beruhigungsmittel zu übernehmen, die „Benzo“ genannt wurden. Diese Mittel waren für Opioidsüchtige eine begehrte Zutat für ihren Drogencocktail und erhöhten die Gefahr, an einer Überdosis zu sterben.
Mulligan war unter dem republikanischen Präsidenten Donald Trump Chefökonom im Weißen Haus. Nach seiner Einschätzung verschlimmerte Obamas Justizminister Eric Holder die Drogenkrise. Er habe die Bundesstaatsanwälte angewiesen, Drogenkriminalität nicht weiterzuverfolgen, wenn mit den Verbrechen keine Gewalt verbunden war. Im Jahr 2016 schränkte der Kongress per Gesetz die Möglichkeiten der Bundesdrogenpolizei DEA ein, verdächtige Opioidsendungen von Arzneimittelhändlern zu beschlagnahmen. Obama unterzeichnete das von beiden Parteien getragene Gesetz. Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton nannte die Gesetzesänderung eines der ungeheuerlichsten Beispiele dafür, dass der Gesetzgeber sich am Tod seiner eigenen Wähler mitschuldig macht.
Trump will hart gegen Fentanyl-Verkauf vorgehen
Die Opioid-Epidemie hat inzwischen ein anderes Gesicht. Im Jahr 2010 änderte Purdue Pharma die Rezeptur des Oxycontin in einer Weise, die das Mittel deutlich weniger attraktiv machte für die süchtigen Konsumenten. Die Drogenabhängigen schwenkten um. Seit jenem Jahr steigt die Zahl der Heroin-Toten rapide, und seit 2013 schießt die Zahl der Fentanyl-Toten nach oben. Fentanyl wirkt ungefähr 30-mal so stark wie Heroin und kommt aus illegalen Labors in China und Mexiko.
Trump will im Falle einer Wiederwahl hart gegen den Verkauf und Handel von Fentanyl vorgehen. Er erwägt sogar den Einsatz des Militärs gegen Drogenkartelle und Bombenangriffe auf Standorte in Mexiko. Den Kongress fordert er auf, „sicherzustellen, dass Drogendealer und Menschenhändler die Todesstrafe erhalten“. Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris versprach, die Mittel für die Verfolgung krimineller Organisationen und Kartelle zu verdoppeln und die Infrastruktur für Sicherheitsüberprüfungen zu modernisieren. Auf ihrer Wahlkampf-Website bezeichnet Harris Fentanyl als „Geißel“ und prahlt damit, dass sie sowohl als Vizepräsidentin als auch als Generalstaatsanwältin von Kalifornien gegen Drogenhändler vorgegangen sei. Der Wähler entscheidet, was er attraktiver findet: Bomben oder Prozesse.