Über 500 Tage. So lange belagerten die Paramilitärs der Rapid Support Forces (RSF) Al-Faschir und hungerten mehrere Hunderttausend Menschen aus. Am vergangenen Sonntag haben sie die Stadt eingenommen und kontrollieren im Krieg gegen die sudanesischen Streitkräfte (SAF) nun die gesamte Region Darfur. In Al-Faschir geschieht nun das, wovor Menschenrechtsgruppen immer wieder gewarnt haben: Die meist arabischstämmigen RSF-Kämpfer massakrieren Zivilisten, vor allem Angehörige ethnischer Gruppen, die in ihren Augen „schwarz“, „afrikanisch“ und damit „Sklaven“ sind. Es droht ein Genozid mit Ansage.
Die UN zeigen sich „alarmiert“, das Auswärtige Amt „erschüttert“. Die Afrikanische Union verurteilt die Verbrechen „auf das Schärfste“. Alle fordern sie ein Ende der Gewalt.
Das wird die RSF nicht stoppen. Deren Führung rund um den inzwischen berühmt-berüchtigten General Mohamed Hamdan Dagalo, auch Hemeti genannt, weiß, dass weder die UN noch irgendeines ihrer Mitgliedsländer willens sind, einen Finger für die Rettung der Menschen in Al-Faschir zu rühren. Die Paramilitärs können ungestört wiederholen, was sie in diesem Krieg schon einmal angerichtet haben. 2023 nach der Eroberung von Al-Dschuneina, einer weiteren Stadt in Darfur, machten sie gezielt Jagd auf Angehörige der Masalit, einer ethnischen Gruppe, die in ihren Augen zu den „Sklaven“ gehört. Sie vergewaltigten Frauen, massakrierten Männer, plünderten und zerstörten ihre Wohnviertel. Die UN schätzen die Zahl der Getöteten auf 15.000, fast 600.000 Menschen flohen über die Grenze in den Tschad.
Die US-Regierung hat noch in der Amtszeit von Joe Biden die Vertreibungskampagne als Genozid eingestuft. Doch niemand hatte versucht, ihn zu verhindern. Oder effektiven Druck auf die wichtigsten Unterstützer der RSF in diesem Krieg auszuüben, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE).
Für die betroffenen Bevölkerungsgruppen ist es ein schreckliches Déjà-vu: Sie waren Anfang der 2000er-Jahre schon einmal Opfer eines Völkermords, damals gemeinsam begangen durch die Armee und die Vorläufer der RSF, die arabischstämmigen Reitermilizen, Dschandschawid genannt.
Die ethnischen Zuschreibungen waren in Darfur nie eindeutig. Aber sie wurden von politischen und militärischen Eliten in Khartum immer schon genutzt, um einen arabischen Rassismus gegen eine bäuerliche „schwarze“ Landbevölkerung zu instrumentalisieren. Bis hin zum Genozid.
Vor zwanzig Jahren fanden die Verbrechen in Darfur weltweit Aufmerksamkeit, von Hollywood bis Johannesburg. Eine UN-Blauhelmmission wurde entsandt – wenn auch verspätet und zu schwach ausgestattet. Heute liegt das multilaterale Fundament für solche Interventionen in Trümmern. Und noch etwas hat sich geändert: Saudi-Arabien, die VAE und Katar haben den Sudan mit seinen Nachbarländern zu ihrem geostrategischen Hinterhof erklärt. Sie investieren Milliarden Euro in Häfen und Agrarland. Sie geben sich als Vermittler in Konflikten aus. Und sie unterstützen Kriegsparteien, um ihren geostrategischen Einfluss auszudehnen.
Zwölf Millionen Menschen sind inzwischen vertrieben. Es ist die weltweit größte Flüchtlingskatastrophe. Die Zahl derer, die sich Richtung Europa aufmachen, steigt (noch) langsam. Trotzdem spielt der Sudan in Brüssel kaum eine Rolle. Europas Aufmerksamkeit gilt Gaza und der Ukraine. Außerdem ist die EU fest eingesponnen in einen Kokon politisch-militärischer Allianzen und Rohstoffdeals mit den Golfstaaten. Sudans afrikanische Nachbarn paktieren ohne Skrupel mit der einen oder der anderen Seite. Die USA nehmen hin und wieder einen Anlauf, um einen Waffenstillstand durchzusetzen. Zuletzt im Herbst dieses Jahres. Bislang ist jede Initiative schnell wieder verpufft.
Dabei hat der Machtkampf zwischen Armee und Paramilitärs seit dem April 2023 weite Teile des Landes und die Hauptstadt Khartum verwüstet, und er könnte mit der Vertreibung der SAF aus Al-Faschir die faktische Teilung des Sudan besiegeln. Das westliche Darfur mit seinen riesigen Goldvorkommen unterstünde dann den RSF, die zusammen mit anderen Gebieten rund ein Drittel des Staatsterritoriums kontrollieren. Im Osten, Norden und in Zentralsudan haben die SAF die Oberhand. Beide Seiten haben Regierungen eingesetzt. Nur die der Armee wird international anerkannt, obwohl auch sie schwerster Kriegsverbrechen beschuldigt wird – unter anderem wegen des Einsatzes von Giftgas –, und obwohl neben Ägypten und Saudi-Arabien auch der Iran zu ihren Unterstützern zählt.
Die internationale Staatengemeinschaft – wenn man sie denn noch so nennen will – scheint sich zunehmend mit diesem Szenario abzufinden, in der Hoffnung, den Krieg auf diese Weise einfrieren zu können. Lieber ein geteilter als ein kollabierender Sudan. Bloß schließt das eine das andere keineswegs aus. Und die Kriegsparteien schwören, weiterzukämpfen. Man habe die eigenen Soldaten aus Al-Faschir an sicherere Standorte verlegt, erklärte Armeechef Abdel Fattah Burhan nach der Einnahme der Stadt durch die RSF und schwor, den Krieg fortzuführen, „bis dieses Land gereinigt ist“.
Die Internetverbindungen nach Al-Fashir waren Anfang der Woche weitgehend gekappt. Nur über Starlink gelang es sudanesischen NGOs, mit einzelnen Menschen in der Stadt zu sprechen. Dort war das Leben schon seit Monaten die Hölle. Tausende ernährten sich zuletzt von Tierfutter, täglich sollen Kinder und ältere Menschen an Hunger gestorben sein. Am Ende hatten auch die Emergency Response Rooms (ERR) keine Vorräte mehr. Dieses landesweite Netzwerk lokaler Selbsthilfegruppen hat seit Kriegsbeginn Millionen Menschen mit Nahrung und Medikamenten versorgt, zerbombte Krankenhäuser wieder aufgebaut und Fluchtwege für Zivilisten gesichert. Dafür erhält es Anfang Dezember in Stockholm den Right Livelihood Award, den alternativen Nobelpreis.
Bis dahin ist womöglich keines der ERR-Mitglieder in Al-Faschir mehr am Leben. Anfang der Woche bestätigten sudanesische Exilmedien den Tod der Frauenrechtlerin Siham Hassan. Hassan war landesweit berühmt geworden, als sie nach der Revolution und dem Sturz des Diktators Omar al-Baschir 2019 als jüngste Abgeordnete ins nationale Parlament einzog. Die Hoffnung auf einen demokratischen Übergang haben Armee und Paramilitärs bis auf Weiteres begraben. Zuletzt leitete Hassan in Al-Faschir während der Belagerung durch die RSF eine Gemeinschaftsküche. Vor wenigen Tagen wurde sie von Paramilitärs exekutiert.