Irmgard F. ist – als sogenannte KZ-Sekretärin – der Beihilfe zum Massenmord schuldig. So sieht es das Landgericht Itzehoe. Der Bundesgerichtshof muss nun über die Revision der Angeklagten entscheiden. Er kann mit seiner Entscheidung nicht nur die Vorinstanz bestätigen – das Landgericht Itzehoe. Wichtiger noch, er hat die Chance, die eigene Kehrtwende in der Rechtsprechung zu den NS-Verbrechen nunmehr vollständig zu vollziehen. Das wäre einerseits richtig und gerecht. Andererseits käme diese Vollendung der Kehrtwende spät, fast zu spät. Die meisten Betroffenen sind verstorben.
Unbehelligte NS-Verbrecher
Zu viele NS-Verbrecher konnten unbehelligt von Strafverfolgung in der Bundesrepublik leben und in Frieden sterben. Das hat auch mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu tun. Denn das höchste deutsche Strafgericht war (zu) lange Zeit der Ansicht, dass für die Feststellung von Täterschaft eine extrem subjektive Theorie gelte. Demnach war nur Täter, wer die Tat als eigene wollte. Folglich kam nur das eigentliche NS-Führungspersonal als Täter für die Massenmorde in Betracht, während SS-Männer, die unmittelbar in den Lagern die Morde begingen, als bloße Gehilfen einzustufen waren.
Darüber hinaus forderte der Bundesgerichtshof bei Beihilfehandlungen einen konkreten Nachweis für die Förderung einer ganz bestimmten Haupttat. So auch am 20. Februar 1969, als der Bundesgerichtshof im Zuge der Frankfurter Auschwitzprozesse das Urteil im Fall des SS-Lagerarztes Dr. Schatz (Az. 2 StR 280/67) sprach. Dort heißt es: „Die bloße Zugehörigkeit des freigesprochenen Angeklagten Dr. Sch. zum Lagerpersonal und seine Kenntnis von dem Vernichtungszweck des Lagers reichen nach allem nicht aus, ihm die während seines Lageraufenthalts begangenen Tötungen zuzurechnen.“
Der Fall Oskar Gröning
Von dieser Rechtsprechung ist der Bundesgerichtshof inzwischen weitgehend abgerückt. Als ein entscheidender Wendepunkt gilt – die Gehilfenstrafbarkeit betreffend – der Fall Oskar Gröning. Dieser war als SS-Buchhalter in Auschwitz tätig. Er wurde als Gehilfe des dortigen Massenmords eingestuft. Dem Bundesgerichtshof genügte bereits seine allgemeine Dienstausübung im Lager für die Beihilfe zum Massenmord. Das war 2016.
Der Fall von Irmgard F. liegt nun insofern etwas anders, als sie nicht Mitglied der SS war und eine ausschließlich zivile Tätigkeit im KZ Stutthof ausübte, das kein reines Vernichtungslager war. Dennoch wurde sie vom Landgericht Itzehoe wegen (psychischer) Beihilfe verurteilt. Das ist konsequent. Sollte der Bundesgerichtshof diese Auffassung bestätigen, hätte er damit seine Kehrtwende in der Rechtsprechung vollendet. Endlich! Denn über 50 Jahre sind seit den Auschwitzprozessen in Frankfurt am Main vergangen. Für viele Opfer und deren Angehörige dürfte diese Entscheidung und die damit verbundene Gerechtigkeit im Jahr 2024 zu spät kommen. Man muss sich daher fragen: Wie viel wäre die Entscheidung noch wert?