Das Schlagwort „spätrömische Dekadenz“ ist eine der unausrottbaren Obsessionen leidlich gebildeter Schichten in westlichen Gesellschaften. Auch der einstige Außenminister Guido Westerwelle benutzte es in einem Interview 2010 (was er später bereute). Mit diesen Worten werden die moralischen Defizite und mentalen Veränderungen unserer Gesellschaften aufgerufen, wenn erklärt werden soll, warum wir uns in einem vermeintlich unaufhaltsamen Niedergang befinden. Seit Edward Gibbons epochalem Werk über den Niedergang des Römischen Reichs aus dem 18. Jahrhundert schlägt die Vorstellung, dass Frieden und Wohlstand den Leistungswillen und die Verteidigungsbereitschaft der Menschen in den Wohlstandszonen aufzehren würden, wie ein Albtraum auf die Stimmung von Gesellschaften, denen es überwiegend gut geht, in denen jedoch ein Teil der Bürger sich nicht vorstellen will, dass derlei von Dauer sein könne. Diese Sorge greift momentan wieder um sich. Sie ist gleichsam eine metapolitische Disposition, von der die radikale Rechte profitiert.