Streitgespräch: „Ich halte dies zu Händen Unsinn“

Herr Südekum, die Bundesbank, der Bundesrechnungshof, die Leibniz-Institute und der Sachverständigenrat prangern an, dass die 500 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen nicht zielgerichtet in zusätzliche Investitionen fließen. Sie halten die Kritik für maßlos übertrieben. Haben die Kritiker die Sache nicht verstanden?

Südekum: Natürlich können alle Haushaltspläne lesen. Doch wenn ich mir anschaue, was von Kritikern geschrieben wurde, werden meines Erachtens einige falsche Schlussfolgerungen gezogen. Anderen Punkten gebe ich durchaus recht. Bei den 100 Milliarden an die Länder wird die Öffentlichkeit genau hingucken, dass das Geld in Investitionen vor Ort fließt. Die Idee war ja, dass dieses Geld an die Kommunen durchgereicht wird. In der politischen Realität haben die Ministerpräsidenten gesagt: Wir nehmen das Geld vom Bund, aber wir lassen uns nicht reinreden.

Die Kritik zielt aber auch auf die Bundesregierung.

Südekum: Mit Blick auf den Bund habe ich Zweifel an den Berechnungen. Im Sachverständigenratsgutachten steht, es werde in dieser Legislaturperiode lediglich zusätzliche Investitionen von 64 Milliarden Euro im Vergleich zu den alten Planungen der Ampelregierung geben. Das ist nicht nachvollziehbar. Die offizielle Zahl der Bundesregierung, die ich für korrekt halte, kommt auf einen Zuwachs von 164 Milliarden Euro. Das ist ein enormer Unterschied, ob man von 164 oder von 64 Milliarden redet. Unterm Strich steht ein massiver Aufwuchs der Investitionen.

Frau Schnitzer, der Sachverständigenrat kommt zu dem Fazit, dass nicht einmal jeder zweite Euro aus dem Sondervermögen zusätzlich investiert wird. Warum fällt Ihr Urteil so verheerend aus?

Schnitzer: Wir haben uns das akribisch angesehen. Was da von welchem Posten verschoben worden ist, ist nicht immer leicht nachzuvollziehen. Deswegen ist unser erster Wunsch: diese Sachen transparenter zu machen. Wir haben für die Berechnung der Wachstumseffekte nicht nur die Haushaltspläne angeschaut, sondern gespiegelt, wie das Geld abfließt. Wir sind zum Schluss gekommen, dass nicht zu erwarten ist, dass mehr als 50 Prozent zusätzlich verausgabt werden.

Was sind die größten Fehlbuchungen, die zusätzlichen Investitionen im Weg stehen?

Schnitzer: Erstens hieß es, solange man mindestens zehn Prozent des Kernhaushalts für Investitionen ausgibt, sind die gesetzlichen Auflagen erfüllt. Schaut man genau hin, stellt man fest: Da werden Verteidigungsinvestitionen im Zähler reingerechnet, im Nenner wird Verteidigung nicht reingerechnet – so sieht es bei der Investitionsquote besser aus. Verteidigung sollte keine Rolle spielen, weil sie über Schulden aus der Bereichsausnahme finanziert wird.

Und zweitens?

Schnitzer: Es werden Posten aus dem Kernhaushalt in das Sondervermögen verschoben; so werden Mittel freigemacht, um beispielsweise Steuermindereinnahmen zu kompensieren. Die Bundesregierung hat anfangs im Koalitionsvertrag vieles unter Finanzierungsvorbehalt gestellt – Mütterrente, Mehrwertsteuersenkung für die Gastro, Pendlerpauschale. Wenn man sieht, was auf einmal möglich sein soll, muss man sich fragen: Ist da nicht Geld freigeschaufelt worden? Da läuft etwas nicht richtig.

Südekum: Diesen Verschiebebahnhof-Vorwurf kann ich nicht akzeptieren. Am Ende kommt es nicht darauf an, aus welchem Konto etwas bezahlt wird, sondern nur die Summe. Ich stimme aber zu, dass es Mütterrente, Gastrosteuer und Co. nicht gebraucht hätte. Ohne diese teuren Projekte, auf die die CSU gedrungen hatte, wäre im Haushalt vieles einfacher.

Die Differenzen in Ihren Berechnungen gehen vor allem darauf zurück, wie Sie die sogenannten finanziellen Transaktionen beurteilen. Was sind diese finanziellen Transaktionen?

Schnitzer: Finanzielle Transaktionen sind Zahlungen, bei denen der Staat Geld ausgibt, aber gleichzeitig einen Vermögenswert erhält – Eigenkapital oder einen Rückzahlungsanspruch. Die Ampel hatte geplant, der Bahn Zuschüsse zu geben, damit sie mehr investieren kann. Das Geld war nicht da. Dann hat man gesagt, wir machen das über eine finanzielle Transaktion – ein Darlehen oder eine Eigenkapitalerhöhung. Der Charme: Die Transaktion wirkt sich nicht für die Schuldenbremse aus, weil man das Geld nicht verschenkt, sondern Anteile hält. Die Idee war, die Bahn sollte mehr investieren.

Und jetzt ist wieder mehr Geld da.

Schnitzer: Jetzt machen wir das bei der Bahn nicht mehr über eine finanzielle Transaktion, sondern wir geben den Zuschuss direkt. Die makroökonomische Wirkung ist die gleiche. Die Bahn hat Geld, um zu investieren. Am Ende interessiert uns der Wachstumseffekt der Investition, darum rechnen wir die Finanztransaktionen der Ampel mit ein, wenn wir die Investitionssummen vergleichen. Jetzt zu sagen, wir verzichten in den Rechnungen auf alle finanziellen Transaktionen, hätten wir nicht für sinnvoll gehalten.

Warum sehen Sie das anders, Herr Sü­dekum?

Südekum: Die finanziellen Transaktionen der Ampel, rund 20 Milliarden Euro jährlich, waren Improvisationslösungen. Den Weg hatte man nur beschritten, weil man für den sauberen Weg der Zuschüsse im alten Korsett der Schuldenbremse schlicht kein Geld mehr hatte. Diese Konstruktionen wären aber über kurz oder lang beim Bundesverfassungsgericht gelandet, denn viele Verfassungsrechtler haben gesagt: Das geht so nicht!

Und daraus folgt?

Südekum: Wir müssen das aus der Vergleichsrechnung rausnehmen. Der relevante Vergleich ist die Investitionsplanung der Ampel ohne finanzielle Transaktionen im Vergleich zu heutiger Investitionsplanung ohne finanzielle Transaktionen. Und dann kommt man auf einen Zuwachs von 164 Milliarden über diese Legislatur. Diese Zahl steht sogar im Sachverständigenratsgutachten, nämlich im Minderheitsvotum von Veronika Grimm. Doch erstmal bleibt in der Öffentlichkeit jetzt hängen: 180 Milliarden zusätzliche Schulden, nur 64 Milliarden zusätzliche Investitionen. Das ist ein schiefer Vergleich.

Haben Sie die hundert Milliarden Euro, die fast ohne Vorgaben an die Bundesländer gehen, als Investition eingerechnet?

Südekum: Die Ländermittel, 8,3 Milliarden im Jahr, sind in der Investitionssumme drin. Da werden jetzt alle genau hingucken, was mit dem Geld passiert.

Ob zum Beispiel die SPD darauf pocht, dass wir Schwimmbäder sanieren. Das ist schön, macht Deutschland aber nicht wettbewerbsfähiger.

Südekum: Das ist die so genannte Sportmilliarde, deren Volumen fällt kaum ins Gewicht. Unter dem Strich glaube ich, dass viele Länder mit dem Geld sorgsam umgehen und einen großen Teil davon für zusätzliche Investitionen ausgeben werden, so wie es gedacht war.

Frau Schnitzer, 100 Milliarden Euro fließen in den Klima- und Transformationsfonds, kurz KTF. Wie groß ist Ihre Erwartung, dass dadurch zusätzliche Investitionen entstehen?

Schnitzer: Da haben wir im Sachverständigenrat durchaus großzügig gerechnet. Wir unterstellen eine Zusätzlichkeit von 50 Prozent. Dabei ist überhaupt nicht klar, was passieren wird.

Südekum: Sehe ich anders. Im alten KTF-Plan der Ampel standen viele Sachen drin, die man gerne gemacht hätte, für die man aber schlicht kein Geld hatte. Jetzt nach der Änderung ist alles im KTF – Heizung, Ladesäulen – seriös finanziert. Jetzt kann man davon ausgehen, dass diese Sachen auch tatsächlich umgesetzt werden.

Wir werden uns nicht abschließend einig, wie viel Geld zusätzlich investiert wird. Wir werden aber in einigen Jahren sehen, wie stark die deutsche Volkswirtschaft gewachsen ist. Das wird ein Gradmesser sein. Herr Südekum, welche Wachstumszahlen müssten wir in den nächsten zwei, drei Jahren sehen, damit Sie sagen, dieses Sondervermögen war erfolgreich?

Südekum: Je mehr, desto besser. Die Herbstprojektion geht von 1,3 Prozent Wachstum aus, auch die EU-Kommission von 1,2 Prozent. Das ist in dem Bereich, den man braucht. Aber woran hängen die Wachstumsaussichten? Das Thema, das mir Sorgen macht, ist, wie schnell die Milliarden abfließen können. Das Vergabe-Beschleunigungsgesetz und das Infrastruktur-Zukunftsgesetz sind die entscheidenden Bausteine. Aber ich merke – und das ist der Aha-Effekt wo ich tiefer in die reale Politik reingucken kann – , dass es ein knallharter Kampf gegen Lobbyinteressen ist, diese praktischen Dinge zu verändern. Von den alten Verfahren profitieren einige, und die verteidigen das mit Zähnen und Klauen.

Schnitzer: Wenn wir Sorge haben, dass das mit den Verfahren nicht schnell läuft wegen der Lobbyinteressen, dann gilt das erst recht, wenn man sich anschaut, wofür sonst Geld ausgegeben wird. Der Koalitionsausschuss hat vergangene Woche den Industriestrompreis und die Senkung der Flugticketpreise beschlossen. Da fragt man sich: Wofür wird das gemacht? Welchem Ziel soll das dienen? Wachstum, Klimaschutz? Beides kann ich mir nicht vorstellen. Und wieder muss man Sorge haben, dass es Lobbyinteressen sind, die sich durchgesetzt haben.

Solche Subventionen verschärfen die Engpässe im Bundeshaushalt. Richtig prekär wird es in ein paar Jahren durch das Rentenpaket. Die Regierung plant, die Dämpfung des Rentenanstiegs durch die Haltelinie auszuschalten, plus die Ausweitung der Mütterrente – das Paket wird 200 Milliarden Euro bis 2040 kosten. Wir nehmen Sonderschulden auf und gleichzeitig scheint man zu sagen, wir haben das Geld für solche Geschenke. Das ist nicht wachstumsfördernd. Kann das einer verteidigen?

Schnitzer: Ich sicher nicht, im Gegenteil. Hier werden ohne Not weitere Ausgaben verplant, die steuerfinanziert getragen werden sollen. Die demographischen Probleme sind lange bekannt, jetzt wird der Demographiefaktor in der Rentenformel bis 2031 ausgesetzt. Das kann nicht funktionieren. Wir können das nicht dauerhaft über Steuern finanzieren. Perspektivisch müssen ja auch die Verteidigungsausgaben wieder mit Steuern, nicht mit Schulden finanziert werden.

Südekum: Das Rentenpaket enthält wichtige Reformen wie die Aktivrente. Die sorgt dafür, dass qualifizierte Arbeitskräfte dem Arbeitsmarkt länger erhalten bleiben. Dieses Rentenpaket muss so verabschiedet werden, darauf hat sich das Kabinett einstimmig verständigt. Es steht ja auch so im Koalitionsvertrag. Jetzt zu sagen, im Jahr 2031 machen wir beim Rentenniveau einen Sprung nach unten und tun so, als hätte es diese Haltelinie nie gegeben, halte ich inhaltlich für absurd – auch wenn es nicht um eine Rentenkürzung geht, sondern um einen gedämpften Anstieg.

Also alles in Butter?

Südekum: Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre die teure Mütterrente im Rentenpaket nicht drin. Mir ist außerdem klar, dass es mit den Haltelinien so nicht weitergehen kann. Wir brauchen eine vernünftige Rentenreform, die alle drei Säulen umfasst, also eine demographiefeste gesetzliche Rente, Betriebsrenten und – ganz wichtig – eine Reform der privaten Altersvorsorge. Um diese Reform muss sich die Koalition spätestens Anfang des kommenden Jahres kümmern.

Schnitzer: Ich halte das für Unsinn, das muss ich klar sagen. Man ist in die Koalition mit der Forderung gestartet, diese Haltelinie festzuzurren. Das Argument war, die Renten sollen nicht gekürzt werden. Dabei reden wir nie über Rentenkürzungen, sondern nur darüber, dass die Renten nicht mehr so stark steigen können. Und wie hat sich die Koalition geeinigt? Indem jeder etwas bekommen hat. Der Kanzler hat selbst gesagt, er will dieses Rentenpaket unbedingt verabschieden, weil die Aktivrente drin ist. Und Herr Söder wird das unterstützen, weil er die Mütterrente haben möchte. Das heißt, da haben sich drei Koalitionäre geeinigt auf etwas, was Geld kostet, was nicht wachs­tumsförderlich ist und wofür wir kein Geld haben. Es ist einfach, sich auf etwas zu einigen, bei dem alle nur etwas geschenkt bekommen.

Wie geht das besser?

Schnitzer: Die Regierung sollte, mit Blick auf die schwierigen Haushaltsjahre, die kommen werden, den umgekehrten Weg gehen und sich auf etwas einigen, was allen weh tut. Das wäre ehrliche Politik. Das ist die hohe Kunst, die sehe ich momentan nicht. Die Argumentation, jetzt machen wir das Bequeme und dann kommt die große Rentenkommission – das ist Augenwischerei. Die Reformvorschläge liegen schon lange auf dem Tisch. Die politische Auseinandersetzung darüber muss von den Koalitionären geführt werden, das kann man nicht an eine Kommission auslagern.

Herr Südekum, woher nehmen Sie die Zuversicht, dass Politiker plötzlich bereit sein werden, schmerzhafte Reformen anzupacken?

Südekum: Weil ich sehe, dass in der Bundesregierung sehr ernsthaft über grundlegende Reformen beraten wird. Die Demographie kann man nicht wegdiskutieren. Der Bundeszuschuss für die Rente wird rapide steigen, der Reformbedarf wird größer, es muss gehandelt werden. Das ist, was ich von allen Seiten höre. Übrigens auch aus der SPD, der ja bisweilen unterstellt wird, sie würde jede Reformnotwendigkeit abstreiten. Das erlebe ich nicht so.

Machen wir einen Strich drunter: Verpulvert die Regierung mit Sondervermögen und Rentenpaket gerade Deutschlands wirtschaftliche Zukunft?

Schnitzer: Ich sehe ein gemischtes Bild. Beim Sondervermögen ist die Grundidee richtig – wir brauchen mehr Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutz. Aber wenn ich mir anschaue, wofür das Geld ausgegeben wird, bekomme ich Bauchschmerzen. Die Regierung versucht viel zu sehr, die Gegenwart zu konservieren oder Wahlgeschenke zu verteilen, anstatt in die Zukunft zu investieren.

Südekum: Ich sehe es positiver. Die 500 Milliarden aus dem Sondervermögen sind ein historischer Kraftakt. Wir haben jahrzehntelang unsere Infrastruktur verfallen lassen. Jetzt haben wir endlich das Geld, um das anzugehen. Ist alles perfekt? Sicher nicht. Aber die Grundrichtung stimmt absolut. Wir investieren endlich wieder massiv und versuchen nach Jahren der Untätigkeit endlich wieder handlungsfähig zu werden.

Monika Schnitzer und Jens Südekum

Monika Schnitzer, Jahrgang 1961, leitet seit Oktober 2022 den Sachverständigenrat Wirtschaft, das wichtigste unab­hängige Beratungsgremium der Bundesregierung. An der Ludwig-Maximilians-Universität München hat sie einen Lehrstuhl für Komparative Wirtschafts­forschung inne. In der Politik­beratung ist sie seit rund zwanzig Jahren aktiv. Derzeit nimmt sie unter anderem in der Re­gierungsreform zur Schuldenbremse Einfluss

Jens Südekum, Jahrgang 1975, ist Professor für Internationale Volkswirtschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Im Vorfeld der Koalitions­verhandlungen hat Südekum gemeinsam mit anderen Ökonomen ein Konzeptpapier für eine Investitionsoffensive geschrieben, das als eine Vorlage für das Sondervermögen diente. Südekum ist SPD-Mitglied und der persönliche ökonomische Berater von Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD).

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