Streit um Weihnachtssong: Kleines Singspiel dieser Moral

Vor zehn Jahren fand Ed Sheeran „Do They Know It’s Christmas?“ noch gut, da hat er bei einer neuen Fassung mitgesungen. Sheerans Konterfei wurde da zu wohltätigen Werbezwecken auf den Westminster Palace in London projiziert.

Man kann sich lustig machen oder empören oder jedenfalls
eine eindeutige Meinung haben zu der Sache mit dem Song Do They Know It’s
Christmas?
. Oder man kann es sich schwer machen und versuchen zu differenzieren.
Es geht dabei um Fragen der Moral, und die sind nie leicht zu beantworten. Manche
sind unlösbar.

Genau vor 40 Jahren, am 29. November 1984, kam Do
They Know It’s Christmas?
als Single in die Plattenläden, von denen es da noch
viele gab. Bob Geldof, damals Sänger der leidlich erfolgreichen Band Boomtown
Rats, und Midge Ure, damals Sänger der sehr erfolgreichen Band Ultravox, hatten
sich die Sache ausgedacht. Geldof hatte am 15. November 1984 einen BBC-Bericht
über die damals in Äthiopien herrschende Hungersnot im Fernsehen gesehen. Darin
sprach eine Helferin davon, dass ihr derart wenige Hilfsgüter zur Verfügung
stünden, dass sie entscheiden müsse, welchem Kind sie noch etwas zu essen gäbe
und welches sie faktisch aufgäbe. Viele Hunderttausend Menschen sind damals
in Afrika gestorben, und die Fotos von hungernden Kindern erschütterten die Bewohnerinnen
und Bewohner jener Erdteile, die nicht zu wenig, sondern immer zu viel zu essen
hatten. Diese Leute hatten offenkundig Mitleid. Und vielleicht auch ein schlechtes Gewissen.

Geldof und Ure jedenfalls wollten den Menschen in Afrika und
insbesondere den Kindern helfen. Als Musiker macht man das am ehesten mit
Musik, Geldof und Ure trommelten einen Haufen berühmter Kollegen zusammen
(viele Frauen waren es nicht), Paul McCartney, Bono, Sting, George Michael,
Phil Collins und so weiter, und schon zwei Wochen nach der Ausstrahlung des
BBC-Berichts war Do They Know It’s Christmas? fertig und zu kaufen. Millionen
Leute taten genau das, viele Millionen britischer Pfund kamen zusammen für
Hilfsgüter. Weihnachten 1984 war die Single in sehr vielen europäischen Ländern
die Nummer eins der Charts. Dass das Musikprojekt Band Aid hieß, der Name also
aus einem Wortspiel bestand, im Englischen bedeutet band-aid halt Pflaster,
konnte man sicher damals schon merkwürdig finden oder als sehr ehrlich
empfinden: Mehr als ein Pflaster auf die Wunden der Welt konnte der Song nicht
sein.

Ich war 13 Jahre alt, als er herauskam. Ich erinnere mich,
dass ich damals immer schlucken musste, wenn der Song irgendwo lief, gerade
beim Schlussteil, in dem die ganzen berühmten Leute im Chor schmettern: „Heal the
world / Let them know it’s Christmas time again“.
Chorgesang hat mich auch
später noch verlässlich überwältigt, aber ich fand es, wenn ich mich recht
erinnere, halt auch schrecklich und eine eigentlich unerträgliche Gewissheit,
damals im Advent 1984, dass anderswo auf der Welt Kinder, die ungefähr so jung
oder noch jünger waren als ich selbst, an Hunger starben, während ich selbst
eifrig Dominosteine futterte. 

Mitwirkende bei der Aufnahme der ersten Fassung von „Do They Know It’s Christmas?“ bei den Aufnahmen am 24. November 1984 (von links): Glenn Gregory (der Sänger von Heaven 17), Bono, Bob Geldof (mit dem Rücken zur Kamera), die Plattenfirmenmanagerin Jill Sinclair und Midge Ure

Zu der Zeit wurden übrigens sogar in kleineren
westdeutschen Gemeinden sogenannte Dritte-Welt-Läden eröffnet, in denen man
Produkte kaufen konnte, die aus Entwicklungsländern stammten. Dritte Welt
nannte man damals das, was heutzutage meist als Globaler Süden bezeichnet wird.
Dieser Dritten Welt sollte fairer geholfen werden als mit Spenden. Irgendwann
bekamen die Betreiber dieser Läden auch ein schlechtes Gewissen und nannten
ihre Geschäfte meist in Eine-Welt-Laden um. Nicht mehr die Herkunft von
Produkten sollte benannt werden, sondern das politische Ziel, das man mit dem
Handel verknüpfen wollte: Die Welt sollte geeint werden. Und wie man daran auch erkennt: Nicht nur Menschen, auch die Welt ändert sich. Oder jedenfalls die Worte, die man für sie benutzt.

Es gab zu den runden Jahrestagen des Erscheinens von
Do They Know It’s Christmas? Neueinspielungen des Songs durch dann je berühmte
Musiker, 2014 sang auch Ed Sheeran mit. Zum 40. Jubiläum des Erscheinens des
Songs wurde nun eine Art Megamix aller Versionen angefertigt, und vor ein paar
Tagen hat Sheeran dann verlautbart, dass er in dem lieber nicht mehr mit
vertreten gewesen wäre; man habe ihn aber nicht nach seiner Zustimmung gefragt
beim Erstellen des Megamixes.

Sheeran schloss sich damit der Kritik des britischen Rappers
Fuse ODG
an, der ghanaische Wurzeln hat: Do They Know It’s Christmas? sei eine
Kampagne, die Afrikaner entmenschliche, „die unseren Stolz und unsere Identität
im Namen der Wohltätigkeit zerstört“ und negative Auswirkungen auf „Afrika und
die Diaspora“ habe. Auf Geldof bezogen sprach Fuse ODG von einem „white saviour
complex“,
der enorm gefährlich sei. Die Weißen also, die zum Beispiel viele
Länder Afrikas kolonisiert, viele Millionen Schwarze versklavt, unendlich lang
korrupte Regime befördert und ausbeuterische Wirtschaftssysteme etabliert haben
– die kehren als Helfende zurück oder beruhigen ihr schlechtes Gewissen mit
Spenden, etwa durch den Kauf einer Benefizsingle. Ich habe das 1984 auch getan,
Do They Know It’s Christmas? konnte ich mir von meinem Taschengeld leisten. Die
Single ist bei irgendeinem Umzug viele Jahre später verloren gegangen, aber die
Wahrscheinlichkeit ist groß, dass weder 1984 noch 2024 irgendjemand einem
13-jährigen weißen Jungen einen white saviour complex nachsagen würde.
Teenager-Ergriffenheit schon eher.

Bob Geldof, der mittlerweile 73 Jahre alt ist, hat sich nun
gegen die Vorwürfe gewehrt. „Dieser kleine Popsong“, sagte Geldof dem
Musikmagazin Billboard vor zwei Tagen
, „hat Millionen Leben gerettet.“ Dass
es dennoch Diskussionen um Do They Know It’s Christmas? gebe (übrigens nicht
zum ersten Mal, und der Text ist in neuen Fassungen verändert worden, er ist
nun ein wenig weniger paternalistisch), sei „fantastisch“, denn so öffne man
den politischen Diskurs mit einem kulturellen, „während sich Empfindlichkeiten
und Zartgefühl und Meinungen verändern“. Er werde sich mit Sheeran unterhalten,
der sei ja ein „wirklich guter Kerl“, ein „schlauer Mann“, ein „Riesentalent“.

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