Streik in Frankreich: „Wir sind hier alle Tagelöhner wie im Mittelalter“

„Wir sind hier alle Tagelöhner wie im Mittelalter“ – Seite 1

An diesem nationalen Streiktag in Frankreich verpasst
Damien seine übermäßig lange Mittagspause. Seit einigen Monaten muss der Hafenarbeiter
von Marseille zwischen elf und
15.15 Uhr, also vier Stunden und 15 Minuten lang Pause machen. Das bedeutet, er verlässt frühmorgens seine Wohnung und betritt sie erst
wieder bei Einbruch der Dunkelheit. In Frankreichs größtem Hafen
lotst Damien täglich Hunderte Urlauberinnen und Geschäftsleute auf große
Personenschiffe – „mitten in den Abgasen“, wie er sagt.

Bezahlt wird ihm dafür der französische
Mindestlohn von elf Euro. „Unsere Arbeitsbedingungen verschlechtern sich von
Jahr zu Jahr“, sagt der jungenhafte 33-Jährige. Wie viele hier möchte er anonym bleiben. Viele Streikende fürchten um ihre befristeten Verträge. „Ich kann nur hoffen, dass
wir Niedriglöhner uns zusammentun“, sagt Damien.

Von einem gemeinsamen Kampf träumt seine Gewerkschaft CGT
schon lange, und am Dienstag haben tatsächlich viele
Berufsgruppen ihre Arbeit niedergelegt
: Lehrerinnen, Arbeiter in Atomkraftwerken,
Schaffner, die Angestellten in Kantinen und Kindertagesstätten und
Krankenschwestern schlossen sich dem Aufruf an. Hafen- und Raffineriearbeiter
demonstrierten zusammen in Martigues, rund 30 Kilometer von Marseille entfernt.
Sie fordern zehn Prozent mehr Lohn – „bescheiden“ nennt dies die Gewerkschaft, weil ihr CEO sein Gehalt um 50 Prozent
erhöht habe. 

Zu den Streikenden nach Martigues zu gelangen, ist allerdings nicht leicht: Ein Taxifahrer winkt ab – zu weit, er wolle nicht schon wieder an einer Tankstelle anstehen. Denn seitdem die Gewerkschaft CGT vor 14 Tagen
zum Streik aufgerufen hat, um für höheren Lohn in der profitablen Ölbranche
zu kämpfen, fehlt in mehr als einem Drittel der Tankstellen Benzin oder Diesel. Manche schließen, an anderen bilden sich Hunderte Meter lange Schlangen.

Nur jeder zweite Lokführer arbeitet an diesem Tag

Am Hauptbahnhof in Marseille hat man einen weiten
Blick über die acht Kilometer lange Industriezone am Mittelmeer, die Altstadt
und die goldene Statue über dem Fischereihafen. Hier streiken die Bahnangestellten, nur jeder zweite Lokführer arbeitet an diesem
Tag. Viele Regionalzüge fallen deshalb aus. Sie stehen oft deshalb hier, weil die Regierung vor wenigen Tagen einige
der streikenden Raffineriearbeiter zur Arbeit zwang: Sie
wurden frühmorgens von der Polizei abgeholt und zu den Raffinerien
gebracht, um dort wieder Sprit herzustellen.

Zugführerin Charlotte Marin, sagt: „Die Zwangsarbeit ist
eine ungeheure Attacke auf unser Streikrecht.“ Die junge Frau in der Jeansjacke
sagt, auch ihr Gehalt müsse angehoben werden, sie habe zuletzt nur 1,4 Prozent
mehr erhalten, weit unter der aktuellen Inflation von sechs Prozent. „Ich habe
keinen Rhythmus mehr im Leben. Manchmal fange ich um drei Uhr morgens an zu
arbeiten und am nächsten Tag um 19 Uhr.“

Vom Bahnhof geht es also zu Fuß durch Marseille. Andere sind an diesem sonnigen Morgen wegen der Streiks mit dem Fahrrad unterwegs. Auf den Boulevards hinab zum Mittelmeer demonstrieren viele verschiedene Gruppen, etwa Oberschüler und ihre
Lehrerinnen. „Fuck die Reform des lycée“, ist auf einem Pappschild zu lesen.

An den Docks war die Gewerkschaft schon immer stark

Auf den Mauern des Hafens wurde ein Graffito gesprüht, mit
einem verunstalteten Gesicht von Präsident Emmanuel Macron. Am
Gewerkschaftsgebäude hängen noch Plakate von vergangenen Streiks
für höhere Löhne. Hier an den Docks in Marseille war die Gewerkschaft schon
immer stark – und die Arbeit hart. Es ist ein ungemütlicher Ort, mehr als zehn
Millionen Tonnen Rohöl und chemische Stoffe werden am Hafen jährlich
umgeschlagen, 200.000 Container verladen.
Es riecht wie an einer Tankstelle. Täglich fahren hier zudem Schiffe mit Tausenden
Personen an Bord zur französischen Insel Korsika und den nordafrikanischen
Staaten. Die Autoschlange für die Abfahrt nach Algerien schiebt sich nur
langsam vorwärts, auf vielen Dächern sind Matratzen und Möbel geschnallt, die
Hafenautobahn donnert in 30 Meter Höhe über die Passagiere hinweg.

Ahmed kommt gerade aus einer der stählernen
Sicherheitstüren, er ist etwas spät dran für die Demonstration in Martigues. „Gucken Sie sich um“, sagt der Elektriker im roten Overall, „wir sind hier alle
Tagelöhner wie im Mittelalter.“ Die meisten hätten befristete oder
Saisonverträge für den Sommer, müssten am Wochenende und in der Nacht arbeiten
und verdienten kaum mehr als den Mindestlohn. Früher habe er sich mittags mit
den Kollegen ein Gericht im Restaurant oder einen Snack in der Bäckerei
geleistet, heute bringe jeder sein belegtes Baguette mit. Aber das interessiere die da oben
nicht, sagt er und zeigt mit ölverschmiertem Finger auf das stählern blitzende
Verwaltungsgebäude des Hafens.

Zum ersten Mal fordert auch die Regierung mehr Lohn

Auch die Regierung schien sich lange nicht für die
Forderungen der Gewerkschaften zu interessieren. Stets beklagten sie in den
vergangenen zwei Wochen die „Blockade“ des öffentlichen Lebens und die „Geiselhaft“, in die die Raffineriearbeiter die Bürgerinnen nehmen würden. Am
frühen Morgen dieses Streiktages nun forderte die Regierung zum ersten Mal die
Manager großer Firmen auf, das Gehalt zu erhöhen. „Wir haben ein Lohn-Problem“,
sagte Innenminister Gérard Darmanin
in einem Radiointerview
. Ein Arbeiter sollte einen gerechten Lohn erhalten.

Ist das schon ein kleiner Gewinn der Streikenden? „Sie
wollen nur verhindern, dass wir weiter revoltieren“, sagt Damien, der
Autoeinweiser. Noch bis zum Abend stimmten die Beschäftigten in den Betrieben
ab, ob sie erneut die Arbeit niederlegen wollen. Viele hier beklagen, wie „dreckig“ und „giftig“ ihr Job sei.

Als er hier vor 13
Jahren anfing zu arbeiten, erzählt Damien, habe er ab und zu nach seinen Schichten
ein Wattestäbchen in die Nase gesteckt – und schwarz vor Schmutz wieder herausgezogen. „Die
Abgase hier, das Schweröl, das muss mir auch erst mal einer ausgleichen“, sagt
er. Seine überlange Pause versucht er inzwischen zu verschlafen: Häufig döse er
mittags auf einer Parkbank in der Sonne, um die Zeit zu überbrücken. So könne
er abends wenigstens länger wach
bleiben.

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