Strafzahlungen für jedes verpasste Arzttermine: Sind Patienten jetzt Wirtschaftsgüter?

In vielen Praxen müssen Erkrankte lange warten, bis sie an die Reihe kommen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung fordert nun Strafgebühren für Versicherte, die gebuchte Termine platzen lassen. Um was geht es dabei wirklich?


Auch in den Koalitionsverhandlungen sieht man Versicherte primär als verschiebbare Masse.

Fotos: VisualEyze/dpa, Tetra Images/imago images (rechts)


Kennen Sie das? Sie suchen bei Doctolib einen Hausarzt und stellen fest, dass die meisten Dermatologen nur noch privat praktizieren. Oder sie stehen schon frühmorgens vor der Tür ihres Hausarztes, um die Chance zu bekommen, vorgelassen zu werden. Oder mussten Sie sich, wenn es um ihre Augen geht, schon mal die Finger am Smartphone plattdrücken, um immer wieder in einer Telefonschleife zu landen?

Nein, denken Sie nicht, dass daran das System Schuld hat. Wir sind es. Wir Patient:innen, die wir viel zu oft zu einem Facharzt rennen oder, wenn wir einen Termin ergattert haben, diesen ohne Absage verstreichen lassen. So liest sich das in den vergangenen Tagen, wenn es über Strafzahlungen für verpasste Arzttermine geht. Im Netz kursierte sogar am 1. April die Ansage, ab sofort seien für diese Sünde 50 Euro Strafe zu entrichten.

Die Debatte ist alles andere als Fake, sondern eine Drohkulisse

Das war Fake. Der Sozialverband Deutschland nennt es einen „schlechten Aprilscherz“. Aber die Debatte ist alles andere als Fake, sondern eine Drohkulisse. Die Sache mit den Strafzahlungen ist nicht neu, zuletzt geisterte sie im vergangenen Herbst durch die Medien und wurde nun im Zusammenhang mit den Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und anderen wieder aufgebracht.

Verantwortungsverschiebung mit System

Diese Verantwortungsverschiebung auf die Patienten hat aber System. Sie bereitet vor, was beim Deutschen Ärztetag im März im Zentrum stand: die Einschränkung des freien Arztzugangs. „Smarte Patientensteuerung“ heißt das derzeit Zauberwort. Es lässt sich im Rahmen der Koalitionsverhandlungen auch im Papier der Arbeitsgruppe Gesundheit nachlesen und soll zwei Milliarden Euro Einsparungen bringen.

Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine Strategie der Zugangsverengung. Sogenannte Primärärzte – das müssen nicht unbedingt Hausärzte sein – sollen künftig darüber entscheiden, ob und gegebenenfalls welche Facharztpraxen angesteuert werden können. Das erinnert an das System vor 50 Jahren, als Versicherte mit einem Jahresscheckheft mit vier Quartalsscheinen ausgestattet wurden. Allerdings hatten Hausärzte damals noch Zeit, sich um ihre Patient:innen zu kümmern und es war auch kein Problem, Termine in anderen Praxen zu bekommen.

Das erinnert an das System vor 50 Jahren, als Versicherte mit einem Jahresscheckheft mit vier Quartalsscheinen ausgestattet wurden

Der Verband der Ersatzkrankenkassen hat, um sich in vorderste Front zu bringen, schon einmal ein entsprechendes Modell vorgestellt, mit dem Namen „persönliches Ärzteteam“. Danach kann man sich neben dem Hausarzt drei ärztliche Disziplinen auswählen, die in einem digitalen Tool verfügbar sein sollen. Zugangsrecht gibt es allerdings nicht. Da selbst den Krankenkassen klar ist, dass die Hausärzte von einem solchen System völlig überfordert wären, soll es telemedizinische Ersteinschätzungen geben. Ich möchte nicht wissen, wie meine Borreliose im vergangenen Jahr ausgegangen wäre, wenn ich die Nummer 116 117 – der Patientenservice, der die Erkrankten bei Bedarf an den ärztlichen Bereitschaftsdienst verweist –angewählt hätte. Vorausgesetzt, ich wäre da je durchgekommen.

Im Verhandlungspapier der möglichen künftigen Koalition stehen sinnvolle Dinge, vor allem die Absicht, endlich die Schulden des Bundes bei den Kranken- und Pflegekassen zu begleichen. Dies jedoch über Einsparungen bei den Versicherten zu erreichen, indem sie als „Patientengut“ oder „Patientenströme“ durchs System „gesteuert“ werden, als ob es sich um eine logistische Güterverschiebung handelte, ist der falsche Weg. Schon alleine die Sprache verrät das rein ökonomische Kalkül! Geht es da eigentlich noch um die bestmögliche Gesundheitsversorgung?

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