Wir leben in Zeiten, die uns einiges Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in der Serie „Worüber denken Sie gerade nach?“ führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Stimmen des öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Die Fragen stellen Maja Beckers, Andrea Böhm, Christiane Grefe, Nils Markwardt, Peter Neumann, Elisabeth von Thadden, Lars Weisbrod oder Xifan Yang. Heute antwortet der Schriftsteller Stephan Thome.
ZEIT ONLINE: Herr Thome, worüber denken Sie gerade nach?
Stephan Thome: Ich denke seit zwei Jahren über die Frage nach, wie sich der Konflikt zwischen China und Taiwan weiterentwickeln wird. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und dem Besuch von Nancy Pelosi im Sommer 2022 auf der Insel wird die Frage immer dringlicher, auch in Hinblick auf die US-Wahlen. Wenn man in Taiwan lebt, kommt man oft in Situationen, in denen einen diese Frage umtreibt, auch wenn man eigentlich gar nicht darüber nachdenken will.
ZEIT ONLINE: Sie haben seit vielen Jahren Ihren Lebensmittelpunkt in Taiwan. Hat die Bedrohung durch China die Stimmung im Alltag spürbar verändert?
Thome: Insgesamt habe ich 16 Jahre in Taiwan verbracht. Der russische Überfall auf die Ukraine war auch hier eine Zäsur. „Ukraine today, Taiwan tomorrow„, solche Sätze zirkulierten vielfach in den sozialen Medien. Und wer doch der Meinung ist, eine Invasion könne Taiwan nicht passieren, muss sich seit 2022 zumindest eine gute Begründung dafür ausdenken. Es werden immer mehr Selbsthilfekurse angeboten: Wie versorgt man Schusswunden? Was muss man im Kriegsfall wissen? Da gab es auf einmal eine Riesennachfrage und ein öffentliches Echo. Der Wehrdienst wurde wieder verlängert. Es herrscht aber keine Panik. Man trifft immer noch viele Leute, die augenscheinlich völlig unbesorgt sind.
ZEIT ONLINE: Findet in Taiwan eine echte Zeitenwende statt?
Thome: Zeitenwende scheint mir ein zu großes Wort zu sein. Wenn zum Beispiel chinesische Kampfflugzeuge in die taiwanische Luftverteidigungszone eindringen, verängstigt die Leute das nicht so sehr. Das passiert fast täglich. Taiwaner neigen nicht zu Überreaktionen, das gefällt mir. Die eigentliche Zeitenwende hat sich auf der anderen Seite, in China, vollzogen. Auch frühere Staatschefs haben in ihren Äußerungen rituell den Anspruch auf Taiwan hochgehalten, waren sich aber im Klaren darüber, dass das zumindest in ihrer Lebenszeit nicht mehr passieren wird. Unter Xi Jinping herrscht eine andere Dringlichkeit und Konfrontationsbereitschaft. Das allgemeine Bewusstsein der Menschen in Taiwan hat da noch nicht ganz nachgezogen.
ZEIT ONLINE: Warum?
Thome: Die Regierung steckt in einer gewissen Zwickmühle. Sie will zwar, dass die Leute sich der Bedrohung durch China bewusst werden. Sie will aber auch nicht, dass junge Leute, die keinen Kriegsdienst leisten wollen, sich dazu entscheiden, lieber woanders zu wohnen. Das gilt ebenso für ausländische Investoren und Geschäftsleute. Man will nicht, dass das Ausland glaubt, früher oder später gingen in Taiwan die Lichter aus.
ZEIT ONLINE: Wie wird in der taiwanischen Öffentlichkeit der Diskurs über den Konflikt mit China geführt?
Thome: Über 80 Prozent der Menschen sagen: Wir wollen keine Vereinigung mit China, aber wir wollen auch keine formelle Unabhängigkeit. Das gilt für Wähler beider politischen Lager. Gleichzeitig ist der politische Betrieb, sind die Medien sehr polarisiert. Das grüne Lager um die Regierungspartei DPP warnt vor der Kriegsgefahr – und wirft den Blauen, den Nationalisten der Kuomintang, vor, sie seien die fünfte Kolonne Pekings, die hinter den Kulissen an einer Schwächung der Verteidigungsfähigkeit Taiwans arbeite. Die Blauen wiederum sagen: Wir sind selbst immer noch Chinesen und können deshalb vernünftig mit China reden. Die DPP sei die eigentliche Gefahr, weil sie mit ihrer konfrontativen Art die Kriegsgefahr erst recht erhöht. Die Emotionalität der Debatte hat auch mit den Spätfolgen der Diktatur in Taiwan zu tun. Wenn die DPP die Kuomintang angreift, greift sie eben auch diejenige Partei an, die in Taiwan jahrzehntelang mit eiserner Hand regiert hat.
ZEIT ONLINE: Die taiwanische Identität hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Wie haben Sie das im Alltag erlebt?
Thome: Das erste Mal war ich 1996 hier, im Jahr der ersten freien Präsidentschaftswahlen. Damals lag der Anteil der Menschen, der sich ausschließlich als Taiwanerinnen oder Taiwaner verstanden hat, bei um die 20 Prozent. Heute sind es über 60 Prozent. Diese Menschen sagen: Wir haben eine eigene Geschichte, wir haben unser eigenes Gemeinwesen, wir haben uns die Demokratie erstritten. Die Demokratie ist natürlich ein identitätsstiftendes Moment – deshalb lässt sich das, was die Taiwaner haben, nicht mehr einfach subsumieren unter die Geschichte des chinesischen Festlandes. Das Vertreten einer taiwanischen Identität ist unter der jungen Generation zur Selbstverständlichkeit geworden. Sie fragt sich: Warum soll ich mich mit dem Land identifizieren, das ich noch nie besucht habe, wo es kein Facebook und kein Instagram gibt? Diesen Trend halte ich für unumkehrbar.