Stefanie Reinsperger : „Dann kann die Lawine auch rollen“

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Pummelig; wuchtig, brummig; stark untersetzt; dick; offensichtlich nicht an Sport interessiert; sehr kräftig; eine sehr breit gebaute Frau; stark übergewichtig, fällt damit optisch aus dem Rahmen. Das sind Drehbuchbeschreibungen von Rollen, die der Schauspielerin Stefanie Reinsperger angeboten wurden.

Sie sei unglaubwürdig als Vergewaltigungsopfer, weil niemand auf der Welt so eine dicke Frau vergewaltigen würde; ein Körper wie ihrer sei zu hässlich, um seinen Anblick auf einer Bühne ertragen zu können. Das sind Kommentare von Fernseh- und Theaterzuschauern, die der Schauspielerin Stefanie Reinsperger entgegengebracht wurden.

Eigentlich würde man gern aus Prinzip keine Zeile über das Aussehen von Stefanie Reinsperger verlieren, weil das nichts mit ihrer Schauspielkunst zu tun hat. Eine Naturgewalt sei sie auf der Bühne, ein Spektakel, eine Wucht, ein Ereignis, ein Kraftwerk, ein Urknall kreativer Energie, ein Ausnahmetalent, voller Spielwut. Das ist in Theaterkritiken über sie zu lesen.

Sie sei „eine große, blonde Frau mit Dutt“. So beschreibt Stefanie Reinsperger sich selbst, und so sitzt sie vor einem, beim Gespräch im Berliner Ensemble nach einer Probe zu Thomas Bernhards Theatermacher, wenige Tage vor der Premiere an diesem Donnerstag.

Reinsperger bekommt sehr viel mehr Lob, positive Reaktionen, Preise und Auszeichnungen für ihre Arbeit als Beleidigungen und Hasskommentare für ihr Aussehen. Aber wenige Tropfen können reichen, um einen Brunnen zu vergiften. Und wenn Teile einer Gesellschaft so abwertend auf eine öffentlich auftretende Frau reagieren, die nicht in die so weit vom Durchschnittskörper entfernte Kleidergröße 36 passt, dann macht das etwas mit der Schauspielerin Stefanie Reinsperger. Es macht sie wütend. So wütend, dass sie darüber reden will.

Kürzlich hat sie ein Buch über sich und diese Wut geschrieben, Ganz schön wütend heißt es, auf 178 Seiten erklärt Reinsperger darin ihre Gefühlswelt. Sie kam schon wütend auf die Welt, schreibt sie, brüllte als Kleinkind so viel, dass ihre Eltern sich in der Not sahen, das ärztlich abklären zu lassen. Alles in Ordnung, befand der Kinderarzt in London, wo die österreichische Familie lebte, weil Reinspergers Vater dort als Diplomat arbeitete, der Arzt empfahl der rasenden Kleinen: eine Theatergruppe. Und dort, beim Spiel, auf der Bühne, so erinnert sich Reinsperger, hatte sie endlich einen Ort gefunden für all die Gefühle in ihr drin, die vorher nicht wussten, wohin sie sollten.

Bis heute kippt Reinsperger, 34 Jahre alt, Österreicherin, ausgebildet am Max-Reinhardt-Seminar, nach Engagements in Düsseldorf, in Wien (erst am Burg-, dann am Volkstheater) und seit 2017 fest am Berliner Ensemble, an einem einzigen Theaterabend so viele Emotionen auf die Bühne, wie andere Menschen in einem ganzen Jahr nicht empfinden. Sie kann leise und zart und verzweifelt und innerlich, und sie kann rasend und brutal und derb und komisch sein. Wie schnell sie zwischen Zuständen wechseln kann, zeigt sie in ihrer Soloperformance von Sarah Kanes Phaidras Liebe (Regie: Robert Borgmann), wo sie die verzweifelte Königin Phaidra und den verkommenen Prinzen Hippolytos spielt. In Ersan Mondtags bildgewaltiger Baal-Inszenierung gibt sie den Asozialen ebenso wütend wie leidend.

Nun also der Theatermacher von Thomas Bernhard, Regie führt BE-Intendant Oliver Reese. Wieder einmal spielt sie eine männliche Rolle, explizit nicht als weibliche Umdeutung, die Figur bleibt „der Staatsschauspieler Bruscon“, dieser größenwahnsinnige Künstler auf Tournee, der seine mitreisende Familientruppe quält und schrecklich leidet an der Provinz, in der er seine große Kunst zeigen muss, in „Utzbach wie Butzbach“, „ein Ort wie eine Strafe Gottes“. Kurze Nachfrage beim Suhrkamp Theater Verlag, der die Rechte an Thomas Bernhards Stücken hält: Soweit sie wisse, sagt Verlagsleiterin Christiane Schneider am Telefon, sei es das erste Mal, dass Bruscon von einer Frau gespielt werde. Schneider, die viele Jahre mit Claus Peymann zusammengearbeitet hat und Bernhard persönlich kannte, ergänzt: „Wenn Bernhard die Reinsperger kennengelernt hätte, hätte er auch sicher kein Problem damit gehabt.“ Sie habe als Schauspielerin eine ähnliche Maßlosigkeit auf der Bühne wie damals Traugott Buhre, der den Bruscon in Peymanns Uraufführung 1985 spielte.

Während einer Probe wenige Tage vor der Premiere erzählt Regisseur Reese, es sei ihm gar nicht in erster Linie um das Stück gegangen, sondern um Reinsperger, er wollte, dass sie diese Rolle spielt. Reinsperger fand die Idee erst mal „verrückt“, auch weil sie ein Elfriede-Jelinek-Fan sei: Entweder Jelinek oder Bernhard, das sei eine Grundsatzentscheidung. Auch habe ihr erst der Zugang zur Figur gefehlt, „ich muss eine Rolle lieb haben können, schließlich muss ich sie ja auf der Bühne verteidigen“. Das sei nicht einfach bei so einem narzisstischen, frauenverachtenden Arschloch wie Bruscon – zumal der, in Überzeichnung, auch noch die Regietyrannei verkörpert, unter der auch Reinsperger schon zu leiden hatte. Letztlich sei es Bruscons Einsamkeit gewesen, über die sie eine Verbindung zur Figur herstellen konnte, dieses Unverstandenfühlen in der eigenen Kunst.

„Es ist gesellschaftlich etwas anderes, so auszusehen“

Stefanie Reinsperger in der Rolle des Bühnenpatriarchen Bruscon

Reinsperger bei der Probe zuzuschauen macht großes Vergnügen, weil anschaulich wird, wie schnell sie die Gefühlszustände wechseln kann, wie sie den widerlichen Theatertyrannen gibt, der schwitzend und ätzend alle anderen niedermacht, während sie außerhalb der Rolle freundlich, rücksichtsvoll, empathisch wirkt. „Ich weiß schon“, sagt sie nach der Probe, „dass meine Wut auf der Bühne auch Menschen Angst machen kann. Mir ist wichtig, vorher mit den anderen abzuchecken, dass ich so weit gehen kann – und dann kann die Lawine auch rollen.“

Es wäre billig, Reinspergers Bühnenpräsenz mit der Größe ihres Körpers zu erklären. Aber natürlich beeinflusst er ihr Spiel. „Es ist einfach ein ganz anderes Leben in so einem Körper“, sagt sie, „es ist gesellschaftlich etwas anderes, so auszusehen, in einer Bar, in der Umkleidekabine. Ich weiß schon, woher teilweise mein Schmerz und meine Spielwut kommen und mein manchmal manischer Drang, mir zu beweisen, dass ich es verdient habe, auf dieser Bühne zu sein, auch wenn ich anders aussehe, als ihr das möchtet.“

Reinsperger möchte nicht, dass es bei ihrer Arbeit überhaupt um ihren Körper geht, aber paradoxerweise muss sie das Thema erst einmal aufbringen, damit es sich vielleicht endlich erledigt. Deshalb das Buch, in dem sie viel von sich preisgibt. Ausschlaggebend war ihre Erfahrung als „Buhlschaft“ im Jedermann bei den Salzburger Festspielen. 2017, mit 29 Jahren, als sie schon von der Theaterkritik gefeiert und mit Preisen bedacht wurde, bekam sie die Rolle, deren Besetzung in Österreich eine Sache von fast politischer Bedeutung ist. Die Buhlschaft spielten schon Christiane Hörbiger, Senta Berger, Sunnyi Melles und Veronica Ferres, und immer schon ging es um ihr Aussehen, ihr Kleid, ihr Dekolleté.

Als Reinsperger sie spielte, bekam sie danach anonyme Drohbriefe, sie solle die Rolle aufgeben, sonst müsse sie mit Konsequenzen rechnen. In ihrem Buch schreibt Reinsperger: „Ich wurde attackiert und beleidigt. Ich habe mich gefühlt, als hätte ich jede Privatsphäre abgegeben. Als wären mein Körper und ich nationales Eigentum, über das alle schreiben, bestimmen und verfügen können. Es ging so gut wie nie um meine eigentliche Aufgabe – die des Schauspielens.“

Statt sich davon komplett verunsichern zu lassen, macht Reinsperger den Schritt nach vorn. Seit letztem Jahr ist sie im Fernsehen als Dortmunder Tatort-Kommissarin Rosa Herzog zu sehen. Als sie im April mit dem österreichischen Fernsehpreis Romy ausgezeichnet wurde, forderte sie in ihrer Dankesrede: „Es ist noch immer so, dass Frauen wie ich noch nicht genug sichtbar sind in Film und Fernsehen. Schreibt die Rollen, schreibt uns diese Geschichten!“

Sie schätzt die Arbeit vor der Kamera, die andere, tiefenpsychologische Art, Figuren zu entwickeln, bei der oft ein Blick reicht – während man auf der Bühne immer so „groß“ spielen muss, dass auch die hinteren Plätze mitkommen. Außerdem möge sie, dass „wir – anders als im Theater – auch wirklich in einer Küche spielen, wenn da im Text steht, die Szene spielt in einer Küche“.

Auf der Bühne des Berliner Ensembles aber hat Stefanie Reinsperger bereits eine Freiheit gefunden, die ihr in der Massenkultur noch versagt ist. Sie spielt einfach, was sie will. „Ich hatte mittlerweile mehr Männer- als Frauenrollen“, sagt sie. Da gibt der Theaterkanon schließlich auch mehr her. Woyzeck würde sie gern mal spielen, „die Marie reizt mich schon“, sie zögert kurz, „oder halt gleich der Woyzeck“.

Dass es wirklich egal ist, welches biologische Geschlecht ihr Körper hat oder wie er aussieht, beweist sie immer wieder auf der Bühne. Auch bei der Probe zum Theatermacher vergisst man als Zuschauer, dass da eine Frau einen Mann spielt, man sieht: Wut, Größenwahn, Furor, Abgründe, Qual. Schauspielkunst.

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