In Israel ist etwas ins Rutschen gekommen. Man erkennt das immer deutlicher. Zum Beispiel in der vorigen Woche, die mit einem Paukenschlag begann. Am Sonntag, dem ersten Tag der Arbeitswoche, verkündete Izchak Herzogs Büro, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Staatspräsidenten um Begnadigung in seinem Korruptionsprozess gebeten habe. Damit wird die politische Polarisierung der vergangenen Jahre auf die Spitze getrieben.
Viele Israelis empfänden es als Schlag ins Gesicht, sollte Netanjahu ohne Schuldeingeständnis und ohne Rückzug aus dem politischen Leben davonkommen. Andere sähen darin den Sieg über eine politisierte Justiz, die ihn zu Unrecht verfolgte. Herzogs Entscheidung wird auf jeden Fall für Zwietracht sorgen.
Am vergangenen Montag dann wurde der Text eines Gesetzentwurfs präsentiert, mit dem die Wehrpflicht für ultraorthodoxe Juden geregelt werden soll. Mehrere Abgeordnete, auch der Regierungskoalition, gaben umgehend zu Protokoll, dass sie den Entwurf ablehnen, weil er die streng religiösen Juden nicht genügend in die Pflicht nehme und es auf diesem Wege nicht genügend Wehrdienstleistende geben werde. Gibt es in dem Streit keine Einigung, wird die Koalition wohl platzen.
Am Dienstag verkündete die Wissenschaftlerin Yolanda Yavor, dass sie in einen Hungerstreik trete, um gegen ihre Haft zu protestieren. Die 50 Jahre alte regierungskritische Aktivistin war wenige Tage zuvor verhaftet worden. Sie hatte im Internet unter anderem dazu aufgerufen, „den Verräter zu bekämpfen“ – gemeint war Netanjahu. Die Polizei sagte, sie werte das als Anstachelung zu einem Terrorakt.
Am Mittwoch schlug Zvi Sukkot, ein Abgeordneter der Regierungspartei „Religiöser Zionismus“, im Umweltausschuss der Knesset vor, die Luftwaffe solle Palästinenser bombardieren, die im Westjordanland Müll verbrennen, weil sie zur Luftverschmutzung beitragen. Die Umweltministerin stimmte ihm zu – Müll zu verbrennen, sei auch eine Form von Terrorismus, erklärte sie.
Justizminister Levin spricht von einem „Lügengebäude“
Am Donnerstag ging die Fehde zwischen Justizminister Yariv Levin und Izchak Amit weiter, dem Präsidenten des Obersten Gerichts. Amit kritisierte, dass Levin ihm ein Treffen verweigere und zahlreiche Ernennungen im Justizsystem boykottiere. Levin warf ihm im Gegenzug Amtsanmaßung vor und kündigte an, er werde das „Lügengebäude“, das Amit und dessen Freunde errichtet hätten, abreißen und die Justiz neu aufstellen.
Man könnte die Aufzählung ohne Weiteres fortführen. Israel im Herbst 2025 wirkt wie eine nicht enden wollende Aneinanderreihung von Krisen und Konflikten. Ist das nach außen so stark auftretende Land auf dem Weg, seinen inneren Zusammenhalt zu verlieren?
Im Grunde ist die Bevölkerung es gewohnt, im Ausnahmezustand zu leben. Das kleine Land musste sich seit seiner Gründung 1948 immer wieder Angriffen erwehren, es hat selbst mehrere Kriege geführt. Israel ist dauerhaft Terrorismus und politischen Anfeindungen ausgesetzt. Das Militär ist in der Gesellschaft ständig präsent, Sicherheitsdenken spielt eine überragende Rolle.
Auch Streit, selbst heftig ausgetragener, war seit jeher ein Charakteristikum Israels. Die Parteienlandschaft ist auch deshalb so unübersichtlich, weil es immer wieder Abspaltungen, Neugründungen, Koalitionen und Umbenennungen gibt. In der gegenwärtigen Knesset sind rund ein Dutzend Parteien vertreten, nach der nächsten Wahl wird es gewiss einige Neuzugänge geben.
Die Appelle zur Einheit des Volkes wirken hohl
Dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass sich etwas geändert hat, irgendwann in den vergangenen Jahren. Viele Gräben in der Gesellschaft scheinen inzwischen so tief geworden zu sein, dass sie unüberbrückbar sind. Die Appelle, mit denen Präsident Herzog oder Ministerpräsident Netanjahu regelmäßig die Einheit des Volkes beschwören, wirken hohl.
Immer öfter sieht man, wie Politiker und deren Anhänger mit offen zur Schau gestelltem Hass über die Gegenseite sprechen. Dabei geht es nicht nur um die Palästinenser, sondern auch um den innenpolitischen Feind. Mit der Koalition aus nationalreligiösen, ultraorthodoxen und rechtsnationalen Parteien hat Netanjahu Ende 2022 die am weitesten rechts stehende Regierung gebildet, die es in Israel je gab. Das hat die Polarisierung verstärkt. Vorher drehte die Politik sich jahrelang darum, ob man „für Bibi“ (Netanjahus Spitzname) oder „gegen Bibi“ ist.
In gewisser Weise ist das immer noch so. Aber durch das Zusammengehen mit rechtsradikalen Politikern, von denen Netanjahu manche noch wenige Jahre zuvor für nicht koalitionsfähig hielt, ist auch wieder eine ungeahnte ideologische Schärfe in Israels Politik eingezogen.
Denn die Koalition versucht mit großem Druck, ihre politischen Vorstellungen durchzusetzen – die oft rechtsnationalistisch, chauvinistisch und palästinenserfeindlich sind. Zudem hat sie sich das Ziel gesetzt, den Staat so umzubauen, dass ihre Macht möglichst lange erhalten bleibt.
Das führt dazu, dass es an zahlreichen Stellen im Gefüge des Staates vernehmlich knirscht. Verschiedene Organe bekämpfen oder boykottieren einander oder werden politisch vereinnahmt. Gerichtspräsident Amit verglich Israels Demokratie am Donnerstag mit einem „Flugzeug“, das in schwere Turbulenzen geraten sei. Er und andere Vertreter des Justizsystems versuchen seit fast drei Jahren, die Beschneidung ihrer Macht durch die Regierungskoalition abzuwehren. Die „Justizreform“ war wegen des Terrorangriffs vom 7. Oktober 2023 zwischenzeitlich auf Eis gelegt worden.
Es gibt einen kalten Krieg
Inzwischen hat Justizminister Levin sie wieder aufgenommen, setzt aber etwas andere Prioritäten. Ging es 2023 meist um Gesetzentwürfe, mit denen die Balance und das Zusammenspiel der Institutionen verändert werden sollten, versucht die Regierung jetzt zunächst vor allem, ihre Gegner direkt zu schwächen. Die Wahl Amits zum Gerichtspräsidenten im Januar hat die Regierung nicht anerkannt. Seither gibt es einen kalten Krieg.
Levin verweigert die Zusammenarbeit. Sichtbar war dies, als der amerikanische Präsident Donald Trump im Oktober nach Israel kam, um sich für die Einigung auf eine Waffenruhe und die Freilassung der Geiseln im Gazakrieg feiern zu lassen. Als Trump in der Knesset sprach, waren die wichtigsten Repräsentanten des Staates anwesend und wurden vom Parlamentspräsidenten ausführlich begrüßt. Nur Izchak Amit war nicht eingeladen worden.
Neben Amit steht vor allem Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara im Fadenkreuz. Sie ist auch die oberste Rechtsberaterin der Regierung und piesackt die Koalition immer wieder mit rechtlichen Stellungnahmen, in denen sie Gesetzesvorhaben oder andere Beschlüsse der Regierung scharf kritisiert – und teilweise sogar aufhält. Aus diesem Grund beschloss die Regierung im Sommer, Baharav-Miara zu entlassen.
Der Schritt wurde von der Justiz jedoch vorerst gestoppt, weil er auf rechtlich problematischen Wegen erfolgt sei. Zu einer mündlichen Anhörung in der Sache beim Obersten Gericht schickte die Regierung am Montag nicht einmal einen Vertreter. Er vertraue dem Justizsystem nicht und werde sich nicht an dieser „absurden Aufführung“ beteiligen, verkündete Levin.
Es ist offen, was passiert, wenn die Regierung ihren Boykott fortführt und vielleicht sogar verschärft. Die Folge könnte entweder sein, dass die Regierungsarbeit in Teilen paralysiert wird – oder dass die Exekutive offen beginnt, sich über die Judikative hinwegzusetzen. Entsprechende Äußerungen, in denen Politiker damit drohen, gibt es immer wieder.
Scharfes Vorgehen gegen abweichende Meinungen
Israel ist nur einen Schritt von einer Verfassungskrise entfernt. 2023 demonstrierten Hunderttausende Menschen im Land gegen die Justizreform. Schon da war die Stimmung teilweise am Siedepunkt. Die Polizei ging immer wieder brutal gegen Demonstranten vor, gleichzeitig gibt es Aufrufe wie den von Yolanda Yavor, die zum Kampf gegen die Regierung aufforderte.
Meistens ist es allerdings die Regierung, der vorgeworfen wird, immer schärfer gegen abweichende Meinungen vorzugehen. Nach dem 7. Oktober betraf das vor allem palästinensische Bürger. Wer Sympathie für Gaza bekundete oder auch nur vage Andeutungen machte, die als Billigung der Massaker der Hamas verstanden werden konnten, lief Gefahr, festgenommen zu werden. Deshalb gab es in Israel auch längere Zeit keine großen Demonstrationen gegen den Krieg. Das Thema ist bis heute heikel.
Erst vor einer Woche tauchten Polizisten wieder einmal bei einer Kundgebung in Haifa auf. Sie wiesen Teilnehmer an, ein Schild zu entfernen, auf dem gefordert wurde, dass die israelische Armee sich aus dem Gazastreifen zurückzieht. Eine rechtliche Grundlage dafür gibt es nicht. Die Polizei versuchte in den vergangenen Monaten auch zu verhindern, dass Demonstranten vor den Wohnungen von Ministern laut die Namen der Geiseln im Gazastreifen verlesen.
Pluralität und Meinungsfreiheit waren kennzeichnend
Viele halten solche Entwicklungen für sehr bedenklich. Israel ist eine Besatzungsmacht, und die palästinensische Minderheit, die rund ein Fünftel der Bevölkerung ausmacht, ist in der Praxis oft nicht gleichgestellt. Aber die politische Pluralität und die Meinungsfreiheit vor allem für die jüdische Bevölkerungsmehrheit waren immer kennzeichnend gewesen für das Land.
Jetzt wird die Axt an manche grundlegenden Freiheiten und institutionellen Absicherungen gelegt. Die Regierungskoalition hat zahlreiche Gesetzesentwürfe vorgelegt – so viele, dass Vertreter von Menschenrechtsorganisationen manchmal sagen, sie seien überfordert und wüssten gar nicht, worauf sie ihre Aufmerksamkeit konzentrieren wollen. Einige Vorhaben würden, wenn sie verabschiedet werden, manche öffentlichen Medien abwickeln und die politische Kontrolle über die übrigen stärken. Medien sollen auch leichter verboten werden können. Als Kulturerbe-Minister Amichai Eliyahu Mitte November in einem Interview zu den zunehmenden verbalen Attacken auf Journalisten gefragt wurde, antwortete er drohend, Medien in Israel sollten nicht denken, dass sie unter Artenschutz stünden.
Andere Gesetzesvorhaben betreffen direkt oder indirekt Netanjahus Korruptionsprozess, die Möglichkeit von Parteien, bei der nächsten Wahl anzutreten, oder die Arbeit von liberalen Nichtregierungsorganisationen. Das vielleicht augenfälligste Vorhaben dieser Tage ist der Plan zur Wiedereinführung der Todesstrafe. Polizeiminister Itamar Ben-Gvir von der ultrarechten Partei „Jüdische Stärke“ fordert seit Jahren „Tod den Terroristen“. Jetzt hat er einen Gesetzentwurf eingebracht, der so formuliert ist, dass er in der Praxis wohl fast ausschließlich gegen Palästinenser angewendet würde.
Mitte November wurde er in erster Lesung angenommen; ob er bis zur endgültigen Verabschiedung gelangen wird, ist aber noch ungewiss. Und selbst wenn, könnte das Oberste Gericht intervenieren. Ben-Gvir fordert, dass die Todesstrafe für bestimmte Verbrechen obligatorisch gemacht wird, ohne Möglichkeit, in Berufung zu gehen. Die Todesstrafe existiert in Israels Rechtssystem theoretisch zwar noch, sie wurde aber nur zweimal vollstreckt – zuletzt 1962 an Adolf Eichmann.
Ein Israel mit Todesstrafe, bedingter Medienfreiheit, eingeschränkten Bürgerrechten und einer immer stärkeren Exekutive – für viele Angehörige des linken und liberalen Spektrums ist das eine Horrorvorstellung.
Der politische Kampf wogt heftig. Die Regierung könnte schon bald fallen oder abgewählt werden. Aber viele Gegner der Koalition sind sich nicht sicher, dass sie den Kampf gewinnen werden. Gerade in Tel Aviv, der liberalen Hochburg, sprechen immer mehr Menschen vom Auswandern. Sie tun das mit gemischten Gefühlen: einerseits angesichts des steigenden Antisemitismus in vielen Ländern. Und andererseits, weil Israel ihre Heimat ist – und für viele auch bis heute eine verwirklichte Utopie.
Das Verheerendste, was geschehen könnte, wäre wohl, wenn der liberale Teil der Gesellschaft den Glauben an diese Utopie verliert – und nur noch jene Vision Israels übrig bleibt, die unter den Anhängern der Koalition vorherrscht.
Source: faz.net