Soziologe Andreas Reckwitz: Warum jener Fortschrittsglaube erodiert ist – WELT

Seit 250 Jahren wird der Fortschritt gepredigt. Doch die Fortschrittsverluste häufen sich, so der Soziologe Andreas Reckwitz. Immer mehr Menschen sehen sich als Fortschrittsverlierer. Was wir alles verloren haben, seit wir „modern“ leben.

Schon mit seiner Studie „Gesellschaft der Singularitäten“ (2017) hat Andreas Reckwitz, Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Berliner Humboldt-Universität, unserer Gegenwart ein viel beachtetes Deutungsmuster geliefert. Überhaupt, wenn Wirkung am internationalen Standing gemessen wird, dann hat Deutschland mit Reckwitz einen Superstar des Fachs, seine Bücher erscheinen in 20 Sprachen. Dem Leibnizpreisträger gelingt auch mit dem neuen Buch „Verlust“ ein großer Wurf, er greift darin eines der zentralen und doch unterbelichteten Großthemen unserer westlichen Gesellschaften auf.

Worum geht es? Um „Modernisierungsverlierer“, doch das wäre zu klein formuliert. Es geht um das, was im Namen des Fortschritts auf der Strecke bleibt, aber kaum gewürdigt wird, weil die moderne Welt ja eigentlich geschaffen scheint, Verluste zu zähmen und zu minimieren: Sie kann Unwägbarkeiten der Natur durch Technik bannen, Krankheiten durch Medizin, Krieg durch „ewigen Frieden“ (Kant), sie kann Armut überwinden und individuelle Selbstentfaltung und Glück ganz ohne die Aufsicht der Kirche ermöglichen. Wenn wir von Moderne sprechen, meinen wir die letzten 250 Jahre, die im Zeichen von Industrialisierung und Verwissenschaftlichung, Vermarktlichung, Säkularisierung und Demokratisierung standen, auf dem Papier also nur Gutes brachten. Sogenannten Fortschritt.

Wenn Verluste eskalieren

Was aber brachte und bringt die Moderne auch? Umweltschäden und Klimawandel, Wettbewerbsverlierer und Arbeitsplatzunsicherheit, überhaupt permanente Transformation und psychische Verunsicherung. Wertgeschätzt wird immer nur das Neue, nie das Altbewährte. Wir haben die größte Selbstbestimmung in der Geschichte der Menschheit, aber irgendwie auch den Verlust von seelischer Geborgenheit. Reckwitz konstatiert all das ausdrücklich nicht als Kulturpessimist, auch nicht als Opferanwalt für Benachteiligte, sondern als Gesellschaftswissenschaftler, er ist neugierig auf das „Verlustparadox“ der Moderne.

Erst die Moderne hat die Ästhetisierung einer verloren gegangenen Vergangenheit durch Nostalgie erfunden, beginnend mit der Romantik. Sie hat das subjektive Verlustmanagement erfunden (in Gestalt der Psychotherapie) und weitaus mehr Erzählungen von in die Zukunft gerichteten Verlustängsten als die Bibel, Stichwort: Apokalypsen und Dystopien.

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Natürlich weiß Reckwitz, dass der Umgang mit Verlusten, etwa durch Tod oder Heimatverlust (Diaspora), die Menschheit schon immer beschäftigt, das ist die Sache mit der Religion. Aber: Die Spätmoderne – also nach der bürgerlichen und der industriellen Moderne unsere Zeit seit den 1970er-Jahren – sei durch „Verlusteskalation“ gekennzeichnet, sprich eine Intensivierung der Wahrnehmung und Bearbeitung von Verlusten. Reckwitz beobachtet, dass der Glaube an den Fortschritt bei den Menschen heute so stark erodiert sei wie nie. „Verlustbearbeitungen“ werden immer wichtiger, sei es durch Retrowellen („Mad Men“), sei es durch Welterbe-Ideen (bewahren, was vom Fortschritt aufgefressen wird).

Früher wollte man Verluste und Defizite minimieren. Heute will man mit ihnen renommieren. Verlusterfahrungen seien, so Reckwitz, geradezu ein Anker subjektiver und kollektiver Identitäten geworden. Es gibt eine allgemeine Verlustsensibilisierung, nach dem Motto: Wir spüren Verluste, also sind wir. „Der Selbstverwirklichungskultur der Spätmoderne ist die Möglichkeit des individuellen Scheiterns in besonderem Maße eingeschrieben“, stellt Reckwitz fest. „Verlust“ gerinnt ihm zum Passepartout für vieles, aber genau das macht den intellektuellen Reiz dieser Studie aus. Reckwitz kapert ein Stichwort zur großen Epochendeutung – das ist die große Kunst der Geschichtsphilosophie seit Koselleck.

Reckwitz schreibt verständlich, aber das Buch ist als akademisches Standardwerk mit enzyklopädischem Anspruch fürs Exzerpieren am Schreibtisch, nicht als Lustlektüre in der Hängematte geeignet. Dass und wie grundsätzlich und epochal das Thema Verlust hier gedacht wird, dass es Ideen-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte mit soziologischer Brille verzahnt, überzeugt. Eine Fortschreibung des „Verlust“-Projektes deutet sich auch schon an: das umfassende Management von Verlusten aller Art durch Resilienzstrategien – noch so ein Signum unserer Zeit.

Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp, 464 Seiten, 32 Euro

Source: welt.de

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